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Ukraine
Putin träumt von Großrussland – der Westen wacht auf

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist vor dem Hintergrund der Entwicklung seit dem Ende der einstigen Weltmacht Sowjetunion zu sehen.

Nach dem Untergang der Sowjetunion spielte Russland Ende des 20. Jahrhunderts wirtschaftlich und politisch keine wesentliche Rolle mehr. Die Erinnerungen an einstmals glorreiche Zeiten lasten schwer auf dem Land. Als mit Wladimir Putin ein ehemaliger Offizier des russischen Geheimdienstes an die Macht kam, war dies mit dem festen Willen verbunden, dem russischen Bären wieder Gehör und Respekt in der Welt zu verschaffen. Russland wollte zurückkehren auf die Weltbühne.

Taktische, brutale und opportunistische Schläge

Putin kämpfte für dieses Ziel mit Worten und Waffen, in Syrien, Osteuropa und Afrika. Immer wieder überraschte er den uneinigen Westen durch taktische, brutale und opportunistische Schläge. Beinahe von Anfang an gerierte sich Wladimir Putin als Kriegsherr, der seine Züge auf dem Schachbrett der internationalen Politik gegen alle Regeln verstoßend mit militärischer Gewalt durchsetzte. Die Außenpolitik entwickelte sich zum Lebensinhalt seiner „Regentschaft Russlands“. Mehr als 20 Jahre lang arbeitete der ehemalige Oberstleutnant an einem neuen Großrussland – ein ambitioniertes Ziel, das er konsequent verfolgte.

Arrogante Siegessicherheit des Westens

Nachdem der Westen unter US-amerikanische Führung der Sowjetunion den Garaus gemacht hatte, war das politische Vorgehen vor allem der Vereinigten Staaten von Amerika von einer geradezu auffällig arroganten Siegessicherheit gekennzeichnet. Der Kommunismus war besiegt, Russland zu einer scheinbar unbedeutenden Macht zweiter Güte degradiert, China zeichnete sich noch nicht als neues Feindbild ab und die globale Vorherrschaft der USA schien unangefochten. In dieser Zeit rückte die NATO immer weiter in Richtung Russland vor: Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien, Bulgarien und auch die baltischen Staaten schlossen sich nach und nach dem westlichen Bündnis an. Es waren wohl diese Jahre, die in Russland – übrigens ebenso wie in China – den Wunsch verstärkten, den übermächtigen USA eine eigene Machtposition entgegenzusetzen.

Erster Warnschuss im Februar 2007

Im Februar 2007 gab Wladimir Putin den ersten Warnschuss ab. Bei einem Auftritt auf der Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik vom 9. bis 11. Februar prangerte er in einer von Wut und Zorn geprägten Rede das unverhohlene Streben der USA nach alleiniger Weltherrschaft an. In seiner Münchener Rede 2007 zog Putin erstmals eine rote Linie, deren Überschreitung durch den Westen unvermeidbar eine Gegenreaktion auslösen würde. Wer 2022 vom Angriff Russlands auf die Ukraine überrascht war, hatte 2007 in München nicht zugehört: Putin verkündete damals klar und deutlich die Rückkehr Russlands auf die Weltbühne – mit dem Anspruch einer unabhängigen Macht auf Augenhöhe mit dem Westen.

Die USA waren auf das Wiedererstarken Russlands nicht vorbereitet; statt die Worte Putins ernst zu nehmen und in ihrer Politik zu berücksichtigten, stempelten sie den Mann im Kreml als Vorboten eines neuen Kalten Krieges ab. Putin, der vor 2007 durchaus eine Annäherung an Westeuropa versucht hatte, wurde zum Buhmann Europas –vergleichbar mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan, aber mit deutlich mehr militärischer Macht ausgestattet. Doch seit 2007 gab es für Wladimir Putin nur noch ein Ziel: Russland wieder zu einer Weltmacht aufsteigen zu lassen.

Georgien und die Ukraine hängen zusammen

Die NATO, die Warnung Putins nicht ernst nehmend, setzte 2008 ihre Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands fort. Die Doktrin des Kremls – „Hände weg von unseren direkten Nachbarn“ – wurde vom Westen schlichtweg ignoriert. Ganz im Gegenteil begann der Westen über eine mögliche Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO zu diskutieren. In Russland schrillten die Alarmglocken. Es war kein Zufall, dass zeitgleich in Georgien und den russisch-sprachigen Regionen Abchasien und Südossetien die dort schwelenden Konflikte erneut aufflammten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Georgien 1991 ein unabhängiger Staat. Doch in den Regionen Abchasien und Südossetien strebte man von Anfang an nach der Loslösung von Georgien. Georgien glaubte zunächst, die Situation unter Kontrolle zu haben. Doch am 7. August 2008 rollten russische Panzer ins Land. Offenbar sah Russland die örtlichen Autonomiebestrebungen als Chance an und verhalf beiden Regionen in einem Blitzkrieg vom 7. bis 15. August 2008 zu einer Form der Unabhängigkeit. Zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion hatte der russische Bär wieder seine Höhle verlassen. Georgien verlor rund 20 Prozent seines Staatsgebiets.

Seitdem bezeichnet sich die „Republik Abchasien“ als selbständiger Staat, wird von den meisten Ländern der Welt jedoch als Teil von Georgien betrachtet Dennoch verfügt Abchasien seit 1993 über eigenständige, von Georgien unabhängige staatliche Strukturen und Georgien übt keinerlei Souveränität über das Gebiet aus. Ähnlich in Südossetien: Die gebirgige Region südlich des Kaukasusgebirges gehört völkerrechtlich zu Georgien, ist de facto jedoch unabhängig und wird international von fünf Staaten, wovon einzig Russland und Syrien von Belang sind, anerkannt. Es gibt noch zwei weitere umstrittene Regionen, Arzach und Transnistrien, die zusammen mit Abchasien und  Südossetien eine  Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten bilden und sich wechselseitig in ihren Souveränitätsbestrebungen unterstützen.

In weiten Teilen des Westens sind diese Zusammenhänge wenig bekannt. Lediglich der Kaukasus-Fünftagekrieg 2008 im Südkaukasus zwischen Georgien auf der einen und Russland sowie den von Russland unterstützten Regionen Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite fand in den westlichen Medien kurze Beachtung. Dabei wurden etwa Menschen getötet sowie zwischen 2500 und 3000 Menschen verwundet.

Die Georgien-Krise von 2008 und der Ukraine-Krieg von 2022 folgten beide ein- und demselben Muster: Russland unterstützte die dortigen pro-russischen Gruppen, um am Ende de faco die Macht zu übernehmen. In beiden Fällen griff Russland ein, nachdem sich abzeichnete, dass die Länder direkt an seiner Grenze in die EU bzw. die NATO eintreten würden.

Die politische Botschaft war in beiden Fällen an Eindeutigkeit nicht zu überbieten, wenngleich zweigeteilt. Erstens, wenn russische Sicherheitsbelange unmittelbar betroffen sind, scheut Russland die militärische Option nicht. Zweitens werden die von Georgien bzw. der Ukraine anvisierten neuen Verbündeten, also die EU bzw. die NATO, militärisch nicht eingreifen, um einen großen Krieg mit Russland zu vermeiden. Diese Botschaft war 2008 in Georgien bereits klar zu lesen, doch sie hinderte die Ukraine offensichtlich nicht daran, ebenfalls ihre Fühler in Richtung des Westens auszustrecken – bis es zur Wiederholung der Geschichte kam. Der Westen liefert Kriegsgerät, nimmt die Flüchtlinge auf und verhängt durchaus harte Sanktionen gegen Russland, vermeidet aber ausdrücklich ein militärisches Eingreifen.

Die Ukraine auf dem Weg nach Europa

Ende 2013 stand die Ukraine kurz vor einem Assoziierungsabkommen mit der EU und der NATO. Daher drohte Wladimir Putin schon damals in aller Deutlichkeit, dass er einen solchen Schritt nicht zulassen werde. Unter dem Druck Moskaus lehnte der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU überraschend ab. Damit zog er allerdings den Zorn der Bevölkerung auf sich, die sich von Russland abwenden und dem Westen zuwenden wollte. Der Aufstand nahm auf dem Platz der Unabhängigkeit (Maidan Nesaleschnosti) seinen Anfang. Im Verlauf des sogenannten Euromaidan gingen Hunderttausende von Ukrainern auf die Straße. Trotz starker staatlicher Repressalien waren die Proteste über Wochen hinweg nicht zu unterbinden. Nach der vereinbarten Beilegung des Konfliktes durch einen seitens der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens vermittelten Vertrags vom 21. Februar 2014 flüchtete Janukowytsch überstürzt noch in derselben Nacht, woraufhin ihn das Parlament am 22. Februar für abgesetzt erklärte. Seinen Abschluss fand der Euromaidan mit der Ernennung Oleksandr Turtschynows zum Übergangspräsidenten am 23. Februar und schließlich der Bildung einer Übergangsregierung unter Arsenij Jazenjuk am 26. Februar, nachdem Regierungschef Asarow mit der ganzen Regierung schon am 28. Januar vor dem Misstrauensvotum zurückgetreten war, um seiner geplanten Absetzung zuvorzukommen. Während der Endphase begannen die russische Annexion der Krim und die Destabilisierung des Landes durch den bewaffneten Einfall Russlands im Osten der Ukraine.

Kampf um Sewastopol

Die ukrainische Hafenstadt Sewastopol auf der Halbinsel Krim war in der sowjetischen Zeit der einzige Zugang Russlands zu den südlichen Gewässern und für Moskau daher von vitalem Interesse. Über die türkische Meerenge können russische Schiffe aus dem Schwarzen Meer zum russischen Stützpunkt Tartus an der östlichen Mittelmeerküste in Syrien gelangen. Für Russland ist es daher ein Albtraum, dass Sewastopol eines Tages ein NATO-Stützpunkt sein könnte, wenn die Ukraine den geplanten Beitritt zur NATO in die Tat umsetzen würde.

Dass Sewastopol heute zur Ukraine gehört, ist ohnehin einem kuriosen Zufall der Geschichte zu verdanken. 1954 verschenkte nämlich der damalige Generalsekretär der kommunistischen Partei, Nikita Chruschtschow, die Halbinsel Krim aus den Händen der russischen an die ukrainische Sowjetrepublik – zusammen mit der Hafenstadt Sewastopol, Schauplatz unzähliger russischer Legenden vom Krimkrieg bis zur Belagerung durch die deutsche Wehrmacht und Sitz der vielbesungenen Schwarzmeerflotte. Solange die Sowjetunion existierte, war diese Schenkung nur eine politische Geste ohne Folgen. Doch als die Sowjetunion 1991 auseinanderbrach, wurde die Krim mit Sewastopol der Ukraine zugeteilt und damit zum Streitobjekt.

Kampf um die Krim

Nachdem der ukrainische Präsident Janukowitsch am 22. Februar 2014 unter dem Druck der Maidan-Proteste aus Kiew geflogen war, gingen auf der ukrainischen Halbinsel Krim Befürworter und Gegner eines Machtwechsels auf die Straße. In den Morgenstunden des 27. Februar 2014 besetzten bewaffnete Kräfte strategisch wichtige Punkte auf der Krim. Bei den Soldaten ohne Rang- und Hoheitszeichen auf den Uniformen – in der ukrainischen Öffentlichkeit als „grüne Männchen“ verspottet – handelte es sich offenbar um russische Spezialtrupps. Sie kontrollierten bald das Regionalparlament und das Gebäude der Regionalregierung in der Hauptstadt Simferopol – und hissten an offiziellen Gebäuden die russische Flagge. Das von den bewaffneten Kräften besetzte Regionalparlament wählte unter Ausschluss der Öffentlichkeit den Politiker Sergej Aksjonow von der Partei „Russische Einheit“ zum neuen Regierungschef – ohne Zustimmung des ukrainischen Präsidenten, wie es die ukrainische Verfassung vorsieht. Am 6. März 2014 beschloss das neu eingesetzte Regionalparlament den Anschluss der Krim an die Russische Föderation. Gleichzeitig wurde für den 16. März ein Referendum angesetzt, in dem die mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung über den künftigen Status der Krim entscheiden sollte. Mehr als 95 Prozent der Wähler sollen sich für Russland entschieden haben, wobei internationale Beobachter sowohl die Rechtmäßigkeit des Referendums als auch die Abstimmung als unrechtmäßig ansahen. Am 18. März 2014 unterzeichnete Wladimir Putin einen Vertrag über die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation. Seitdem betrachtet Moskau die Halbinsel Krim einschließlich Sewastopol als Teil Russlands.

Der Anschluss der Krim war für Putins zweifelsohne ein großer Sieg und wurde in Moskau auch als solcher gefeiert. Es markierte zudem den Auftakt für eine Art patriotischen Frühling in Moskau, den Beginn einer neuen Ära des „make Russland great again“. Wladimir Putin sah sich in der historischen Rolle desjenigen, der die sowjetischen Staaten zusammenhält und die Ehre Russland wiederherstellt. Ungefähr zur gleichen Zeit begannen Konflikte in der russisch-sprachigen Donbass-Region, auch Donezkbecken genannt, im Osten der Ukraine, die von Moskau angeheizt wurden. Später wurden die östlichen Regionen im Donbass, Donezk und Luhansk, von Russland als unabhängige „Volksrepubliken“ anerkannt. Wie schon nach der Annexion der Krim erntete Moskau internationale Kritik für sein Vorgehen.

Einmarsch in Syrien

Doch während sich der Westen noch über die Übernahme der Krim ereiferte, plante Putin offenbar schon seinen nächsten Schachzug – in Syrien. Unter dem Deckmangel der Terrorismusbekämpfung war der Krieg in Syrien zu dieser Zeit längst unübersichtlich geworden. Islamistische Milizen, die freie syrische Armee, die Kurdenmiliz und die Truppen von Syriens Präsident Baschar al-Assad bekämpften sich gegenseitig. Die westliche Diplomatie war in dieser Zeit von Moralpredigten und Zögern geprägt. Putin nutzte die Gunst der Stunde, um al-Assad zu unterstützen. Ein totalitäres Regime, das sein Land abschottet, war für Putin weitaus besser als das vorherrschende Chaos, die mögliche Machtübernahme durch die Islamisten oder gar Erfolge der USA in dieser Region der Welt.

Der arabische Frühling

Ab 2011 breitete sich der sogenannte Arabische Frühling wie ein Lauffeuer aus – von Tunesien über Libyen und Ägypten bis nach Syrien. Putin vermutete augenscheinlich, dass die USA hinter dieser Entwicklung steckten und befürchtete offenbar, dass das daraus resultierende Machtvakuum die Ausbreitung des radikalen Islam begünstigen würde. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, griff Moskau am 30. September 2015 mit einer Militäroperation in Syrien ein. Es war der erste Militäraufmarsch Russlands außerhalb seiner Nachbarländer. Die Angriffe auch auf zivile Ziele erfolgten überwiegend aus der Luft. Am Boden setzte Putin ausländische Söldner ein, um in Moskau keine toten russischen Soldaten erklären zu müssen. Experten sprechen von einer sogenannten hybriden Kriegsführung, die ebenso im Osten der Ukraine zum Einsatz kam.

So gelang es Putin, Baschar al-Assad an der Macht zu halten – völlig überraschend für den Westen, der ihn bereits abgeschrieben hatte. Schließlich waren die einstigen Staatslenker Ben Ali in Tunesien, Muammar al-Gaddafi in Libyen und Hosni Mubarak in Ägypten vom arabischen Frühling hinweggefegt worden. Doch al-Assad blieb dank Moskaus militärischer Hilfe. Seitdem hat Russland in Syrien den Hafen von Tartus und den Luftwaffenstützpunkt in Hmeimin kräftig ausgebaut, um seine Präsenz im Mittelmeer zu festigen.

Indes fuhr Russland in Syrien nicht nur einen militärischen Sieg ein, sondern auch einen machtpolitischen. Mit dem unerwarteten Eingreifen in Syrien war Moskau wieder zu einem Mitspieler auf der Weltbühne geworden. Schiiten wie Sunniten, also die beiden größten religiösen Strömungen des Islam, waren Putin dankbar für das Zurückdrängen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Ob im Iran, in Saudi-Arabien, in Israel oder in der Türkei – überall war Wladimir Putin nach seinem Eingreifen in Syrien willkommen.

Sieg in Libyen

Gestärkt durch seine Erfolge in Syrien richtete Putin seinen Blick in Richtung Mittelmeer, vor allem auf Libyen, das zwar ein Wüstenstaat ist, aber viel Öl besitzt. Er sah offenbar einmal mehr eine günstige Gelegenheit, die Schwächen der USA und der Vereinten Nationen, die nach seiner Einschätzung für das Chaos in Libyen verantwortlich waren, auszunutzen.

Am 19. März 2019 hatten französische, britische und amerikanische Flugzeuge die Truppen des libyschen Autokraten Gaddafi angegriffen. Ihr erklärtes Ziel: die Zivilbevölkerung zu retten. Wie so oft glaubte der Westen, dort Frieden stiften und die Demokratie einführen zu können. Doch nach dem Sturz Ghaddafis versank das Land im Chaos.

Wie in Syrien standen sich auch in Libyen Türken und Russen gegenüber. Doch die beiden Mächte arrangierten sich und teilten das ölreiche Land, das zugleich ein Eingangstor nach Afrika darstellt und Präsenz im Mittelmeer gewährleistet, auf. Dabei ging es für Russland keineswegs nur um das Seegebiet, das gemeinhin als Mittelmeer bezeichnet wird, sondern darüber hinausgehend um die schiffbaren Verbindungen zwischen dem Roten Meer, dem Schwarzen Meer, dem Mittelmeer und über Gibraltar den Zugang zum Atlantik.

Charme-Offensive in Afrika

Nach den Siegen in Syrien und Libyen startete Wladimir Putin im Oktober 2019 eine breit angelegte „Charme-Offensive“ in Richtung Afrika. An einem Afrika-Gipfel in Sochi nahmen die Staats- und Regierungschefs beinahe aller afrikanischen Staaten teil: 45 Staatsoberhäupter aus 54 Ländern. Der „Deal“ lag auf der Hand: Moskau würde die Despoten mit Waffen beliefern, die afrikanischen Länder im Gegenzug die reichlichen Rohstoffe des schwarzen Kontinents für russische Unternehmen bereitstellen. Zudem würden die afrikanischen Staaten Russland bei den Vereinten Nationen ihre Stimme wo immer möglich geben. 30 afrikanische Länder unterzeichneten ein militärisches Abkommen mit dem Kreml. Die USA wurden nicht mehr als verlässlich eingestuft und China wurde zunehmend als Gefahr gesehen; also war Russland der perfekte neue Partner. Im Unterschied zum Westen versuchte Moskau nicht, den Afrikanern Lektionen in Sachen Demokratie und Menschenrechte zu erteilen, sondern wickelte den Deal als nüchternes Geschäft ab. Im Januar 2018 traf die erste große Waffenlieferung aus Russland in der zentralafrikanischen Republik ein – als ein Symbol für die Bewaffnung Afrikas durch Russland.

Putin erzählt eine Geschichte

Wie gut Wladimir Putin darin ist, die Weltgeschichte auf seine Weise zu interpretieren und vor allem der Öffentlichkeit darzustellen, zeigte damals ein Kinderfilm. In diesem wurden die Tiere Afrikas, Löwen, Giraffen und Elephanten, von gierigen Hyänen bedroht – solange, bis der starke Bär aus Russland herbeigeeilt kam, um Afrika zu befreien und zu beschützen. Die Hyänen symbolisierten dabei den Westen, genauer gesagt, die Franzosen als ehemalige Kolonialmacht Zentralafrikas. Es war ein einfaches Narrativ, aber es wirkte bei Kindern wie Erwachsenen, zumal die Russen tatsächlich in Schulen und Krankenhäuser vor Ort investierten, was die Franzosen jahrzehntelang vernachlässigt hatten. Das Geld dazu nahm Russland aus der Ausbeutung der Rohstoffe.

Kampf um den Kaukasus

Weit weg von Afrika war man in Moskau zwischenzeitlich besorgt, weil sich der türkische Präsident Recep Erdogan an den Grenzen des russischen Reichs zu schaffen machte. So begann die Türkei 2020 mit Hilfe von Aserbaidschan die Eroberung des armenischen Berges Karabach voranzutreiben. Putin stoppte den türkischen Vormarsch und besiegelte damit Russlands Rückkehr in den Kaukasus, auch wenn er dafür Armenien als Verbündeten opfern musste. Am 27. September 2020 startete Aserbaidschan die Militäroperation „Eiserne Faust“. Das ölreiche Aserbaidschan wurde von der Türkei unterstützt, nach 25 Tagen muss Armenien kapitulieren. Dann beendete Russland das grausame Spiel um die Macht: Am 10. November 2020 wurden die direkten Kampfhandlungen in einer von Russland vermittelten Waffenstillstandsvereinbarung zwischen den Konfliktparteien beendet. Der Kreml gerierte sich wieder einmal als Friedensstifter und hatte zugleich die Kontrolle am Südkaukasus, die mit dem Ende der Sowjetunion verloren gegangen war, zurückgewonnen. Zudem war der türkische Einfluss, der Putin in der Nähe  zu Russland schon lange ein Dorn im Auge war, abgedrängt.

Siegesfeier mit großem Pomp

Am 9. Mai 2021 feierte Wladimir Putin mit großem Pomp auf dem roten Platz in Moskau den Frieden – jedenfalls offiziell. In Wirklichkeit war es eine Siegesfeier anlässlich der gelungenen Rückkehr Russlands auf die Weltbühne der internationalen Politik. Die Welt begann wieder Angst vor Wladimir Putin zu haben. Kreml-Beobachten behaupten, dass es schon als kleiner Junge auf dem Hof immer den Anführer spielen wollte. Diesen Charakterzug hat er offenbar in die Weltpolitik mitgenommen. Man muss diese aus russischer Sicht überwältigenden Erfolge berücksichtigen, will man begreifen, warum Putin im Februar 2022 mit der Invasion der Ukraine begann.

„Spezielle Militäroperation“ in der Ukraine

Jahrzehntelang hat in Europa Frieden geherrscht, seit dem 24. Februar 2022 ist dies vorbei. In Nacht vom 23. auf den 24. startete das russische Militär einen Großangriff auf die Ukraine. Die ukrainische Hauptstadt Kiew liegt rund 750 Kilometer Luftlinie von Moskau entfernt. Ziel des russischen Einmarsches war es offenbar von Anfang an, Kiew einzunehmen, die ukrainische Regierung zu stürzen und das Land vollständig unter russische Fittiche zu bringen. Gleichzeitig gab sich der russische Präsident Wladamir Putin ebenfalls von Anfang an Mühe, den Krieg zu verharmlosen. Er bezeichnete ihn als eine „spezielle Militäroperation“, die notwendig sei, um eine vom Westen initiierte Eskalation in der Ostukraine zu befrieden.

Der Westen wacht auf

Der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine war wie ein Weckruf für die internationale Staatengemeinschaft, vor allem für den Westen, also Nordamerika und erst recht Europa. Binnen einer Woche erwies sich die EU als so geschlossen wie lange nicht mehr. Die NATO verkündete, ihr seit Jahren hingebummeltes Ziel, dass alle Mitgliedsländer zwei Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Verteidigungsausgaben aufwenden sollten, kurzfristig zu erreichen. Schweden und Finnland diskutierten beinahe spontan den Beitritt zur NATO. Die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte zu einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Ukraine: „Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns. Sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben.“ Kurz zuvor hatte der ukrainische Präsident Salenskiyj erklärt: „Wir wenden uns an die EU zur unverzüglichen Aufnahme der Ukraine nach einer neuen speziellen Prozedur“. Gemeint war wohl: so schnell wie möglich.

SPD und Grüne springen über ihre Schatten

Auch in der Bundesrepublik tickenfen die Uhren seit dem 24. Februar schneller und anders herum. So liefert Deutschland Waffen in ein Krisengebiet, zuvor ein „no-go“. Die amtierende Bundesregierung aus SPD und Grünen ist  sich einig, die Bundeswehr binnen kürzester Zeit massiv aufzurüsten. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte eine massive Aufstockung der deutschen Verteidigungsausgaben an. Der Bundeshaushalt 2022 soll einmalig mit einem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für „notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben“ ausgestattet werden, sagte Scholz in seiner Regierungserklärung. Er ergänzte: „Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Die SPD, im Selbstverständnis die Friedenspartei Deutschlands, votierte für den Einsatz von Kampfdrohnen.

Um die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern, kündigte Scholz den Bau von zwei Terminals für Flüssigerdgas (LNG) in Deutschland an Zwar gab es in der EU viele Terminals für Flüssigerdgas, aber kein eigenes in Deutschland.

Die Grünen, also die Anti-Atom- und Pro-Umweltpartei schlechthin, erwägt den längst beschlossenen Ausstieg aus Kern- und Kohlekraftwerken nochmals zu überdenken. Die russischen Expansionsgelüste haben eine ähnlich agile Politik hervorgerufen wie es zwei Jahre zuvor beim Ausbruch von Corona zu verzeichnen war. Salopp formuliert: Wenn’s sein muss, kann Deutschland ebenso wie andere Staaten erstaunlich schnell reagieren und zuvor über Jahre gefestigte Dogmen binnen weniger Tage über den Haufen werfen. Bleibt zu hoffen, dass dabei kein ähnliches Chaos ausbricht, wie es bei der Corona-Bekämpfung der Fall war.

Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen

Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine stellt sich die EU auf rund sieben Millionen Flüchtlinge aus dem angegriffenen Land ein. Um ihnen schnell und unbürokratisch zu helfen, wird die „Massenzustrom“-Richtlinie aus dem Jahr 2001 aktiviert. Diese garantiert Kriegsflüchtlingen ohne ein aufwendiges Asylverfahren bis zu drei Jahre Schutz in der EU.

Die entsprechende Richtlinie ist eine Folge der Kriege in den 1990er-Jahren im ehemaligen Jugoslawien. Sie wurde vor 2022 noch nie – auch nicht während der großen Fluchtbewegung 2015 und 2016 – genutzt. Insgesamt müssen mindestens 15 Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen, um die Richtlinie zur Anwendung zu bringen. Zu den Mindeststandards, die alle EU-Länder garantieren müssen, gehören etwa eine Arbeitserlaubnis für die Vertriebenen sowie Zugang zu Sozialhilfe, medizinischer Versorgung, Bildung für Minderjährige und unter bestimmten Bedingungen auch die Möglichkeit zur Familienzusammenführung.