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Jochen M. Richter
Europäische Realitäten – Zum EU-Beitritt Rumäniens

Ein Reisebericht als Bilanz 15 Jahre nach dem umstrittenen EU-Beitritt Rumäniens von DC Mitglied Jochen M. Richter

Das Flugzeug ist fast gelandet und der Blick auf die Stadt lässt es zweifelhaft erscheinen, ob ich in einer mittelgroßen deutschen Stadt mit Flughafenanschluss oder wie tatsächlich in Cluj in Rumänien lande. Da ich freundlicherweise abgeholt werde, setzt sich diese diffuse Wahrnehmung fort: modernstes Auto, die Unterhaltung findet in Englisch statt, die Radiospots und Songs sind so international wie überall genauso wie der unvermeidliche Stau aufgrund der Rushhour.

Cluj, einst das europäische Zentrum der friedlichen Koexistenz von über 5 Religionen, macht diese Vergangenheit durch beeindruckende Gebäude der jeweiligen Kirchen deutlich. Die Universität prägt wie überall auf der Welt die Stadt in der positiven Weise, die viele an solchen Städten schätzen. Also wenig verwunderlich, dass mein Gastgeber darauf verweist, dass Cluj früher mit Heidelberg verglichen wurde. Er erfahre, dass man sich als Nachbarn je nach Konstellation in Rumänisch, Deutsch oder einer der Balkansprachen grüßt.

Brutale Erneuerung und Stau an Modernisierung

Während wir unserem Ziel entgegensteuern, wird deutlich, dass das Stadtbild geprägt ist von einer Mixtur aus beinahe brutaler Erneuerung, dem Versuch, Altes zu erhalten und einem Stau an Modernisierung, der dem in gewissen Gebieten z.B. im Ruhrgebiet in nichts nachsteht, ja vielleicht eher umfangreicher ist.

Bei meiner Buchvorstellung werde ich in der Diskussion gefragt, wo Rumänien in der EU heute steht und ob es noch Hoffnung gibt, dass man in den Schengenraum aufgenommen wird. Gute Fragen, wie ich zugeben muss, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Und immer wieder die Frage, ob der spezielle Mechanismus, vornehm Überwachungs- und Kooperationsmechanismus genannt, nicht doch ungerecht war. Ich verweise auf mein Buch "Last Train West", in dem die interviewten Personen erklären, dass er notwendig war, um dem Land den Beitritt 2007 zu ermöglichen. Doch nehme ich deutlich wahr, dass all dies noch immer schmerzt und es gewissen Oppositionskräften leicht macht, Stimmung gegen die EU zu schüren. Leider mit gewissem und leichtzunehmendem Erfolg, auch weil Europa kein Mittel zu finden scheint, dieser Desinformation zu begegnen.

Am Abend, bereits in Timisoara angekommen, werde ich darauf angesprochen, ob die EU auf den Fall vorbereitet ist, dass es der Ukraine gelingen könnte, die durch Russland gewaltsam eroberten Gebiete zurückzugewinnen. Einen Moment muss ich stutzen, um dann zu hören, dass man hier vor Ort beinahe sicher ist, dass eine solche Situation eine starke Antwort Russlands erzeugen würde. Je nachdem, was das konkret hieße, könnte es eine amerikanische Gegenreaktion hervorrufen. Bei meinen Gesprächspartnern sind das keine theoretischen Überlegungen, sondern Ausdruck der Sorge, dass die EU nicht in Szenarien denkt und vorausplant.

Fragen über Fragen

Während eines Interviews am folgenden Morgen, werde ich u.a. gefragt, was aus den Ideen einer EU der verschiedenen Geschwindigkeiten wird, heute eher als Europäische Politische Union bezeichnet, und was das z.B. für die Republik Moldau bedeutet. Natürlich habe ich die Rede von Präsident Macron in Bratislava im Kopf. Doch bin ich nicht sicher, ob wir nicht heute - wie seinerzeit vor den Erweiterungen von 2004 und 2007 - zwischen historischer Verantwortung einerseits und der Fähigkeit sowie dem Willen, noch mehr Länder aufzunehmen, andererseits gefangen sind. Wird es nicht Zeit, die Einstimmigkeit abzuschaffen, werde ich als nächstes gefragt. Ich antworte, dass es aus meiner Sicht der falsche Zeitpunkt ist, weil es der ein oder andere als Zeichen auffassen würde, dass seine Meinung stört, obgleich ich wahrnehme, dass die hinlänglich bekannten Blockadehaltungen immer weniger akzeptiert werden.

Mittags sehe ich mir Timisoara, dieses Jahr europäische Kulturhauptstadt, näher an. Die Stadt ist im 21. Jahrhundert angekommen was die Shops, Restaurants, ja teils das Preisniveau angeht. Im Straßenbild sieht man afrikanische junge Männer Essen der bekannten Lieferdienste ausfahren. Und dann trifft man sehr regelmäßig auf Menschen, die auf der Straße leben, mal versteckt, mal sehr direkt um eine Spende bitten, und genauso gehören Mütter bzw. Familien mit drei und mehr Kindern zum Bild. Aber auch Paare, denen offensichtlich ein anderes weniger gebundenes Leben wichtiger ist. Diese Vielschichtigkeit und Geschäftigkeit macht es wenig offensichtlich, dass das Land rund 4 Millionen Einwohner weniger hat, als nach dem Fall des Kommunismus und nach wie vor eine große Bevölkerungsgruppe im Ausland lebt oder zumindest arbeitet. Also auch hier ist das Thema (Fach-)Kräftemangel bittere Realität. Wie in Deutschland wird die Lösung zum Beispiel durch Zuzug von Menschen aus anderen Kulturkreisen (hier vielfach aus Bangladesch) kontrovers diskutiert. Eine umfassende Debatte fehlt wie überall und spielt denen in die Hände, die Ängste schüren.

Russische Propaganda fällt auf fruchtbaren Boden

In den Gesprächen wird deutlich, dass die meist über Medien verbreitete russische Propaganda auf wenig fruchtbaren Boden fällt, man aber sehr genau beobachtet, dass es Teile der Bevölkerung gibt, die dafür empfänglich ist. Man erzählt mir auch von russischem Investment in den Gebieten, die nahe am Schwarzen Meer liegen, die mittlerweile mit Sorge betrachtet werden.

Während die Anzahl ukrainischer Flüchtlinge im Vergleich z.B. mit Polen überschaubar ist, verfolgt man sehr genau die Entwicklungen so nahe der eigenen Grenze. Solidarität wird großzügig geübt, wie ich den Schilderungen entnehme und so finde ich auch schnell heraus, dass man das Uber Taxi auch mit der Option buchen kann, die eine kleine Spende zugunsten der Ukraine beinhaltet.

Frieden, Freiheit und ein besseres Leben

Wenn man fragt, was den Menschen wichtig ist, dann kommen immer wieder die gleichen drei Worte: Frieden, Freiheit und weiter bessere Lebensbedingungen. Der Lehrerstreik um bessere Entlohnung beschäftigt das Land und die Politik.

Fragt man nach Wünschen an die Politik wird entweder abgewunken oder die Antwort lautet mehr Stabilität und weniger Skandale. Brüssel wird leider zunehmend kritisch betrachtet und dass im kommenden Jahr Wahlen zum EU-Parlament sind, ist nicht bekannt. Aber fairerweise muss man erwähnen, dass langsam der Wahlkampf für die Präsidentschafts-, Kommunal- und Parlamentswahlen beginnt.

Als Teil der Aktivitäten der Kulturhauptstadt steht im Zentrum ein hohes Gestell, wie ein grüner Turm. Mit verschiedenen Pflanzen auf 5 Ebenen versehen, kann man sich die Stadt aus unterschiedlichen Höhen ansehen und bekommt gute Erklärungen zu den jeweils sichtbaren Gebäuden. Im Gespräch mit der Organisatorin der Events lerne ich, dass diese Aktion ebenso heftig umstritten war, wie Konzerte von Roma und einer Gruppe aus Afrika. Bei letzterem wurde immer wieder kritisch gefragt, was das denn mit Timisoara bzw. Rumänien zu tun habe. Und der Turm, gibt meine Gesprächspartnerin zu, stört sie auch etwas, weil er den Blick von Kathedrale in Richtung Freiheitsplatz versperre. Durchgesetzt hat das Konzept der Bürgermeister, ein noch jüngerer Mann, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Nach Studium und Auslandsaufenthalten, kam er nach Timisoara and gewann die Wahlen mit einer komfortablen Mehrheit.

Ein Fazit

Was ist so zu sagen die Schlussfolgerung in Bezug auf den Titel europäischer Realitäten? Einerseits gibt es etliche Gemeinsamkeiten inklusive gewissem Unbehagen in Bezug auf Veränderungen sowie leider nicht geführte aber dringend nötige Debatten. Immer wieder wird angemerkt, dass man sich auch wegen der ausstehenden Mitgliedschaft im Schengenraum als Europäer zweiter Klasse fühlt. Obgleich die Wahrnehmung auch der rumänischen Stimme in Brüssel seit Kriegsausbruch besser geworden ist, sitzt tief, dass man die Warnungen so lange ignoriert wurden. Und einige Vorhaben, die aus Brüssel kommen, wie z.B. die geplanten Gebäudesanierungen, sind von der Realität der Menschen und ihren effektiven (finanziellen) Möglichkeiten weit über Timisoara hinaus sehr weit weg. Außer jenen, die immer noch in Nostalgie der Vergangenheit hinterherhinken und Russland als gut ansehen, ist die Nähe zu einer gewissen amerikanischen Lebensphilosophie sehr greifbar. Müsste also mehr über eine neue Praxis des europäischen Mottos "Einheit in Vielfalt" nachdenken? Vielleicht könnte mehr Akzeptanz erzeugt werden, wenn etwas mehr Gewicht auf Vielfalt gelegt würde.

* DC Mitglied Jochen M. Richter hat das Buch "Last Train West" veröffentlich, das 15 Jahre nach dem umstrittenen EU-Beitritt Rumäniens Bilanz zieht.