Thought Leadership

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Hubert Nowatzki
Der Staat behandelt uns wie Kleinkinder

Von DC Mitglied Hubert Nowatzki*

Der Staatstheoretiker John Locke kam in seinem Werk „Two Treatises of Government“ schon 1689 zu der Erkenntnis, dass eine Regierung nur legitim ist, wenn sie die Zustimmung der Regierten besitzt und die Naturrechte Leben, Freiheit und Eigentum beschützt. Doch die heutigen Regierungen haben ihren Schutzwall längst auf alle Lebensbereiche ausgedehnt. Der Staat der Moderne verhält sich wie eine Mutter, die einfach nicht akzeptieren will, dass ihr Spross längst dem Babydasein entwachsen ist und seine eigenen Erfahrungen machen will.

Wir Menschen haben den Wunsch, unser eigenes Schicksal wenigstens ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen. Wenn wir uns derart gegängelt fühlen, dass uns diese ureigene Freiheit genommen wird, dann werden wir wütend, wie ein Baby, dem man nicht erlaubt, zu brabbeln, zu krabbeln und zu laufen, und später selbstständig zu denken und zu tun und zu lassen, was ihm Freude bereitet, solange es andere Menschen dadurch nicht schädigt.

Menschen wollen ihr Leben genießen – aber nur auf korrekte Weise genießen, will uns der Staat ein Leben lang belehren. Wir sollen uns gesund ernähren – Fett, Zucker oder Kohlenhydrate und gelegentlich sogar Fleisch sind verpönt –, möglichst wenig oder gar nicht rauchen und Alkohol „bewusst genießen“. Wohl­gemerkt: Ungesundes Essen, übermäßiges Rauchen und Alkohol bis zum Umfallen sind gesetzlich nicht verboten. Aber „die da oben“ wissen halt, was gut für uns ist, und werden nicht müde, es uns immer wieder zu sagen. Dieses Hineinmoralisieren macht selbst vor unserem Intimleben nicht Halt. Sex ist erlaubt, aber bitte nur „safe“ und am besten nach vorheriger „vertraglicher“ Abmachung. Auf Zigarettenpackungen sehen wir Schreckensbilder, die uns zu Nichtrauchern umerziehen sollen. Und natürlich sollen wir auf jeden Fall auf die korrekte Sprache achten, ausländer- und gendergerecht.

Wir sind zu dumm und zu schwach, sagt die Politik

Hinzu kommt der Verbraucherschutz, ein von der Politik an darauf spezialisierte Verbände delegiertes allumfassendes Maß­nahmenbündel, damit wir nicht übertölpelt werden. So werden wir von der Politik ständig für zu dumm, zu schwach und zu vorurteilsbeladen gebrandmarkt, um unser eigener Herr – oder unsere eigene Frau – zu sein.

Unser Auto sollen wir eventuell noch kaufen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, aber danach am besten stehen lassen und auf den öffentlichen Personennahverkehr umsteigen, um die Umwelt zu schonen. Und wer dennoch Auto fährt und dabei auf den Schilderwahn auf deutschen Straßen achtet, gewinnt den Eindruck, hier haben sich die allmächtigen Regulierungsfantasien der Bürokratie mit dem Gewinnstreben der Schilderbranche ein Stelldichein gegeben. Bislang werden wir nur gelegentlich mit Blitzern ermahnt, wenn wir uns nicht daran halten.

Doch damit wir künftig garantiert jedem Schild unsere Ehrerbietung erweisen, besteht die EU darauf, alsbald alle Autos mit automatischen Systemen ausstatten, die die Schilder selbstständig erkennen und den Wagen ohne unser Zutun entsprechend steuern. Dazu gehören beispielsweise „intelligente Geschwindigkeitsbegrenzer“: Kaum sieht der Wagen „Tempo 30“, schon bremst er automatisch ab. Ein großer und natürlich EU-weiter Entwurf, unser Leben zu regulieren – wieder einmal nur, um uns vor uns selbst zu schützen, versteht sich.

Natürlich: Wenn das Baby auch als Erwachsener sein Kinderbettchen nicht verlassen darf, ist es besser geschützt, als wenn es in die weite Welt marschiert. Und wenn der Gesetzgeber keine verbindlichen Regeln erlässt, so will er wenigstens mit erhobenem Zeigefinger moralisieren. Hierzu startete beispielsweise der Bundesverkehrsminister schon 2019 eine bundesweite Plakatkampagne, die uns davon überzeugen soll, wie sinnvoll es ist, beim Fahrradfahren einen Helm zu tragen. Das mag schon sein, aber das Gesetz sieht nun einmal keine Helmpflicht vor, wie der Minister am besten wissen sollte. Warum verwendet er dennoch Steuergelder, um werblichen Druck aufs radelnde Volk auszuüben? Weil er augenscheinlich besser weiß als wir, was gut für uns ist.

2024 machte sich die Staatsmacht sogar allen Ernstes auf, der Kirche Konkurrenz zu machen – als Seelsorger. Die amtierende Familienministerin hatte die „Einsamkeit“ der Bürger als neues Feld entdeckt, um das sich die Regierung zu kümmern hätte. Stolz stellte sie das erste deutsche „Einsamkeitsbarometer“ vor, nachdem sie im Vorjahr bereits mit 111 Maßnahmen gegen Einsamkeit die Sorge um die Seele der Menschen für ihr Ressort reklamiert hatte. Das Barometer der einsamen Herzen war nur die erste Maßnahme – wir dürfen also noch 110 weitere erwarten. So verwies die Ministerin auf Modellprojekte, etwa einen Pferdehof für Kinder oder Ausflüge für Rentner mit Rollator. Zudem stellte sie klar, dass das Einsamkeitsbarometer eine dauerhafte Einrichtung werden sollte. Sieben Millionen Euro hat die Regierung mit Stand 2024 reserviert, um die Einsamkeit zu bekämpfen.[i] Es ist immer gut, etwas Gutes für seine Mitmenschen zu tun. Aber brauchen wir wirklich einen „bundesweiten Ball der einsamen Herzen“, finanziert vom Steuerzahler? Wohl eher nicht!

Moralischer Zeigefinger über den Tod hinaus

Selbst über den Tod hinaus hebt der Staat den moralischen Zeigefinger. Wer seine sterblichen Überreste für sich behalten und die Organe nicht der Gemeinschaft zur Verfügung stellt, handelt amoralisch, will uns die Politik weismachen. Der Deutsche Bundestag debattierte ernsthaft darüber, ob Organspenden Pflicht werden – und möglicherweise macht er künftig sogar ernst damit.

Wen wundert es angesichts solcher moralischen Überlegenheit der politischen Funktionäre eigentlich noch, wenn sich die Menschen dagegen wehren? Wer Politikverdrossenheit beklagt, sollte sich erst einmal darüber klar werden, was diese politische Bemutterung von der Wiege bis zur Bahre den Menschen eigentlich antut. Lust und Leidenschaft, Gestaltungswillen und Genuss haben in dieser modernen Welt anscheinend immer weniger zu suchen. Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit ist aus den Fugen geraten: Der Staat entzieht uns immer mehr Freiheiten mit dem Argument, dadurch unsere Sicherheit erhöhen zu wollen.

Doch das ist nicht nur für uns Bürger fatal, sondern auch für die Demokratie. Nur die Freiheit, dass wir diejenigen Parteien wählen dürfen, deren Ziele uns zusagen, sichert den Wettbewerb der politischen Parteien um unsere Zustimmung. Doch tatsächlich erleben wir auch im Parteiengeflecht schon seit längerem eine moralische Komponente: Wer diese oder jene Partei wählt, darf sich zu den Guten zählen, wer eine andere wählt, gehört zu den Bösen – so versuchen es uns jedenfalls die Regierung und die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten einzubläuen. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, die Parteienfreiheit en detail zu beleuchten, aber klar ist: Die Freiheit, in der Wahlkabine seine Stimme ohne Zwänge abzugeben, gehört zu den wichtigsten Freiheiten, die wir in einer Demokratie besitzen.

* Hubert Nowatzki war "in seinem ersten Leben" Steuerfahnder, bevor er die Seiten wechselte und seit vielen Jahren als Steuerberater tätig ist. Seine "Spezialität" sind schwierige Fälle, für die er auch den Gang vor den Bundesfinanzhof oder das Bundesverfassungsgericht nicht scheut.