Thought Leadership
Exponentielle statt lineare Entwicklung
von Dr. Horst Walther, Prinzipal Diplomatic Council Institute for Digital Transformation
Die Politik ist sich mit dem größten Teil der Gesellschaft einig, wenn es um das Thema Digitalisierung geht: So schlimm wird es schon nicht kommen. Diese Einstellung verkennt den Unterschied zwischen linearer und exponentieller Entwicklung. Sie geht davon aus, dass sich die bisherige Welt Jahr für Jahr in kleinen Schritten voran bewegt. Das Smartphone wird immer etwas besser, der Akku hält immer etwas länger, bei den sozialen Netzwerken kommt immer mal wieder ein neuer Player hinzu.
Es mangelt an der digitalen Vision
Diese Einstellung ist falsch und fatal. Sie verkennt, dass die digitale Entwicklung exponentiell verläuft und damit disruptiv auf alle Aspekte der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wirkt. Schlimmer noch: Sie ignoriert Machtverschiebungen und damit den Verlust der Macht, selbst zu gestalten. Der Beruf des Hufschmieds wurde nicht abgelöst, weil sich die Pferde veränderten, sondern weil das Transportwesen mit der Erfindung des Automobils keine Pferde mehr brauchte. Nokia wurde nicht binnen weniger Jahre hinweggefegt, weil Apple die besseren Handys baute, sondern weil Apple grundlegend andere Geräte – Smartphones – auf den Markt brachte. Bei selbstfahrenden E-Autos beschleicht derzeit viele Menschen eine Ahnung, dass dies zu ebenso disruptiven Veränderungen führen könnte, die eine ganze Branche an den Abgrund führen könnte. „Könnte? – wohl eher „wird!“. 40 Prozent der Weltbevölkerung – über 3 Milliarden Menschen – sind heute in sozialen Netzwerken aktiv; rund ein Drittel sind allein in den letzten zwei Jahren hinzugekommen.
Die Mittelschicht ist millionenfach betroffen
Dass die Tage von Fahrern – Bus, Lastwagen, Taxi – sich dem Ende nähern, gilt längst als ausgemacht. Weniger offensichtlich scheint es zu sein, dass Berufe wie Makler, Verwaltungsangestellte, Allgemeinmediziner, Verkäufer, Bankangestellte, Journalisten, Händler oder Anwälte von der Digitalisierung akut gefährdet sind. Überall dort, wo es um Rollenspiele nach festgelegten Regeln geht, sollte man sich künstliche Intelligenz vorstellen, nicht wegdenken: Algorithmen statt Sachbearbeiter. Das heißt, der Großteil dieser Tätigkeitsfelder wird künftig von Software mit künstlicher Intelligenz bearbeitet werden. Es sei beispielhaft auf die Oxford University verwiesen, die in einer Studie aus dem Jahr 2017 zu dem Schluss gelangt, dass über alle Branchen hinweg 47 Prozent aller Berufe durch Computer bzw. Software ersetzt werden können. In der Versicherungswirtschaft veranschlagt dieselbe Studie eine „Computerisierbarkeit“ von über 90 Prozent aller Jobs. Wohlgemerkt: Es wird immer noch Ärzte, Makler oder Anwälte geben – aber viel viel weniger als heute, und mit anderen Kompetenzen, in einem anderen Umfeld und mit anderen Verdienstaussichten. Die Digitalisierung wird Millionen von Arbeitsplätze vor allem in der White-Collar-Schicht – in der Regel die Mittelschicht – betreffen, viele davon für immer vernichten und unsere Gesellschaft nachhaltig verändern. Der Begriff von der „Digitalen Revolution“ ist nicht übertrieben, er beschreibt schlichtweg unsere Zukunft, mit allen – und zwar enormen(!) – Chancen, aber eben auch mit Risiken.
Verharren und Verdrängen ist kein Programm
Es wäre Aufgabe der Politik, unsere Gesellschaften auf diese Entwicklung vorzubereiten. Statt sich um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Jobs zu kümmern, die es künftig gar nicht mehr geben wird, wäre es angebracht, in großem Maße Schulungsprogramme aufzulegen für Menschen, deren Jobs durch die digitale Revolution wegrationalisiert werden. Gleiches gilt für andere Institutionen der Zivilgesellschaft, aber natürlich auch für jedes Unternehmen. „Die Menschen werden immer mehr Reisen“ waren sich die Hufschmiede einer glänzenden Zukunft gewiss – und irrten sich. Wer heute Verantwortung in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft trägt und nicht berücksichtigt, dass die digitale Revolution exponentiell und nicht linear verlaufen wird, handelt unverantwortlich. Verharren und Verdrängen ist kein politisches Programm für die Zukunft – übrigens auch nicht für jeden einzelnen von uns! Wer schlau ist, wartet nicht, bis „die da oben“ seine bzw. ihre Zukunft gestalten, sondern nimmt sie besser selbst in die Hand.
Es war noch nie so einfach wie heute
Bedenken wir: Es war noch nie so einfach wie heute, ein globales Unternehmen aufzubauen. Köpfchen und Internetanschluss sind die einzigen Voraussetzungen. Ehrgeiz, Fleiß, Disziplin, Engagement und Kreativität sind hilfreich. Der „klassische Weg zur Bank“ wird durch Fintech und Crowdfunding ersetzt, Risiko wird nicht mit „geht nicht“ verwechselt. Und es muss nicht unbedingt eine weltweite Firma sein, die Begrenzung auf eine Stadt, ein Land oder einen Sprachraum kann je nach Branche durchaus sinnvoll sein. Anwälte werden immer gebraucht? – ja, aber 80 Prozent der anwaltlichen Tätigkeit besteht aus Aufgaben, die Software schneller, besser und vor allem kostenlos erledigen kann. Schlosser werden immer gebraucht? – ja, aber wenn die Smartwatch die Tür öffnet und schließt, gibt es kein „Schlüsselgeschäft“ mehr. Diese Liste ließe sich beinahe endlos fortsetzen. Es wird Heerscharen von Menschen geben, denen die digitale Revolution die Existenzgrundlage entzieht.
Wie in einer Parallelwelt wird gleichzeitig der Fachkräftemangel zu einem immer drängenderen Hemmschuh für das Wachstum der Digitalwirtschaft. Fachkräfte, die sich in der Digitalwelt auskennen, haben steigende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dazu trägt auch der demographische Faktor bei: Junge Talente mit Digital-Knowhow werden derart rar, dass auch die ältere Mittelschicht nach entsprechenden Umschulungsmaßnahmen einsatzfähig wird. Risiken und Chancen liegen durchaus nahe beieinander. Zumal die weltweiten Bevölkerungsströme auch die Gelegenheit zur Verjüngung ganzer Gesellschaften in sich bergen; die USA stehen wie kaum ein anderes Land exemplarisch dafür, wie junge Einwanderer zu erfolgreichen Unternehmern aufsteigen.
Revolution voraus
Es ist die Aufgabe der Verantwortungsträger in unserer Gesellschaft, dafür Sorge zu tragen, dass die digitale Revolution nicht zu einer „echten Revolution“ führt. Sich der Digitalisierung zu verweigern, ist dabei sicherlich keine Strategie. Die digitalen Weltmächte wie Apple, Google, Facebook usw. haben heute schon mehr finanzielle Ressourcen und mehr „digitale Einwohner“ als die meisten Staaten. Und sie denken und handeln nicht in Wahlperioden oder Landesgrenzen. Diese Digitaloligopole bewerten die herrschenden politischen Systeme überwiegend negativ oder ignorieren sie schlichtweg, weil sie ihre eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen durchsetzen und sich nicht vom politischen Stillstand bremsen lassen wollen. Demokratische Grundsätze und Rechtsprechung stehen dabei nicht immer an erster Stelle.
Apple verweigert dem FBI die Mithilfe bei auf Aufklärung eines terroristischen Anschlags, Google ersetzt den Datenschutz durch die eigenen AGBs, AirBnB setzt sich über die Mietgesetze hinweg, Uber kümmert sich nicht um Taxilizenzen, Facebook übernimmt mit der Bewertung von Hasskommentaren eine staatliche Aufgabe, der nach bisherigem Staatsverständnis eine richterliche Entscheidung zugrunde liegen müsste … die Liste ließe sich fortsetzen.
Während heute in erster Linie US-amerikanischen Digitalkonzerne zu nennen sind, ist abzusehen, dass die digitale Revolution einen zweiten zusehends asiatischen Fokus erhalten wird. Über die vergangenen Jahre hat sich in asiatischen Ländern ein ganz eigenes digitales Ökosystem entwickelt. Manche Firmen sind mittlerweile weltweit ein Begriff, der Suchmaschinen- und Technologiekonzern Baidu etwa, das chinesische Amazon Alibaba, Japans Facebook Mixi und der Twitter-Klon Weibo sowie die südkoreanische Alleskönner-App Kakao Talk. Eine aktive Rolle Europas ist derzeit kaum erkennbar.
Die Digitalwirtschaft ist davon überzeugt, die Digitalisierung besser zu beherrschen als die Staaten und sie vertritt die feste Überzeugung, dass sie der Menschheit hilft. Und man kann schwer widersprechen: Die Informationen unserer Zivilisation gebündelt in einer Suchmaske, überall auf der Welt kommunizieren können, mit der Smartwatch dank Sensoren permanent den eigenen Gesundheitszustand überwachen – das sind tatsächlich Visionen, von denen frühere Dekaden träumten als Inkarnation der „Information Society“, der Informationsgesellschaft.
Generation Kleinkind mit Tablet und Schnuller
Dennoch fällt es vielen Menschen offenbar schwer, zu begreifen, dass dies nicht das Ende, sondern der Anfang einer exponentiellen digitalen Entwicklung ist. Wir sehen Kleinkinder mit Tablet und Schnuller vor uns, aber begreifen nicht auf Anhieb, dass diese Generation mit der Digitalisierung in einer Symbiose verwächst, die der heutigen Generation fremd ist und häufig Angst macht. Staaten, Unternehmen, Gesellschaften und Individuen sind indes gut beraten, sich auf diese Entwicklung so gut und so rasch wie möglich vorzubereiten. Diese Digitalisierung wird zweifelsohne vielen Menschen viele Vorteile bescheren – aber was ist mit den anderen?
Es gäbe viel zu tun
Es gäbe viel zu tun: Breitband überall, E-Government, präventive Medizin durch Digitalisierung, Verkehrsinfrastruktur und Gesetzgebung auf selbstfahrende Autos vorbereiten, Datenschutz neu definieren in einer Welt der Datenverteilung, Smart Cities beginnen, digitale Währungen einführen und vor allem eine breit angelegte Bildungsstrategie, um die künftig Betroffenen mit Digitalwissen auszustatten. Wer die aktuellen und letzten Wahlen in den Demokratien beinahe rund um den Globus analysiert, wird feststellen: Beinahe nichts davon steht in den Wahl- und später in den Regierungsprogrammen. Das Gesundheitswesen ist in beinahe allen entwickelten Ländern reformbedürftig, um es vorsichtig zu formulieren. Ist es eine gewagte Prognose, dass die „Reform“ in den meisten Staaten durch ein künftiges Digitalisierungsangebot aus dem Silicon Valley kommen wird? Gleiches gilt für das Bildungssystem in vielen zivilisierten Ländern – inklusive Prognose.
Politik muss sich stark machen für die Digitalisierung
Politik muss sich stark machen für die Digitalisierung, wenn sie künftig ihr Primat aufrechterhalten will. Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, sich den Digitalgiganten entgegenzustellen, sondern darum, sich ihnen nicht hilflos zu ergeben. Politik und Gesellschaft müssen sich stark genug machen, um bei der digitalen Revolution mitreden und vor allem mitgestalten zu können. Diesen Gestaltungswillen lässt die heutige Politik überwiegend vermissen, das Digitalversagen der Politik auf praktisch allen Feldern und in beinahe allen Staaten ist kaum zu leugnen. Diese Lücke ist im Übrigen nachvollziehbar, wenn man analysiert, wie viele Politiker aus der unternehmerischen Praxis kommen und wie viele sich ohne nennenswerte Berufspraxis in den eigenen Reihen hochdienen mussten.
Was aber wird aus den Millionen von Menschen, deren Arbeitsplätze sich drastisch verändern oder ganz in Frage gestellt werden und für die sich dadurch ihre wirtschaftliche Grundlage verschiebt? Die Populisten in der Politik werden sich diesen Heerscharen der digitalen Verlierer annehmen. Die Populisten finden einfache Antworten und stets Schuldige. Mit dem Versprechen, den Zurückgelassenen (wieder) Anschluss an den Wohlstand zu geben, werden sie überall auf der Welt versuchen, einen Wahlsieg nach dem anderen einzufahren. Tatsächlich erleben wir genau diese Entwicklung schon in einigen Ländern. Wenn wir die Folgen erst abwarten, um daraus zu lernen, kann es zu spät sein. Frühzeitiges und präventives Agieren ist angesagt!
Digitalisierung für alle Menschen
Aus diesen Gründen setzt sich das Diplomatic Council vehement dafür ein, die globale digitale Revolution so zu gestalten, dass sie allen oder jedenfalls möglichst vielen Menschen zugute kommt und frühzeitig Alternativen aufzeigt gerade auch für diejenigen, für die die Folgen der Veränderung nicht nur positiv sind. Der Taxifahrer, der Sachbearbeiter, der Anwalt, der Handwerker, der nicht mehr gebraucht wird, wird sich nicht mit einem „tut mir leid“ zufrieden geben. Die Menschen werden verständlicherweise aufbegehren und – so steht zu befürchten – den verlockenden Versprechungen populistischer Politiker in der ganzen Welt Glauben schenken. Die Anzeichen hierfür in den großen Industrienationen sind heute schon überdeutlich, obwohl bislang vor allem die Globalisierung den Menschen Angst macht und sie die Auswirkungen der globalen Digitalisierung auf ihre eigene Existenz kaum begreifen oder schlichtweg nicht wahr haben wollen.
Das Diplomatic Council fordert ein Zusammenwirken von Politik und Zivilgesellschaft, um die digitale Revolution zu GESTALTEN. Wir müssen den Menschen sagen, was auf sie zukommt und ihnen eine Perspektive für ihre eigene Rolle in dieser neuen Welt geben. Die Entwicklung einer „Global Digital Agenda 2030“ ist zwingend erforderlich. Wir können die Vergangenheit nicht zurückholen, wohl aber die Zukunft gestalten! Die Digitalisierung bietet hierfür Individuen und Unternehmen mehr Chancen als je zuvor – aber nur, wenn sie diese erkennen und lernen, sie zu ergreifen.
Es wäre Aufgabe der Politik, die staatlichen Bildungssysteme konsequent darauf auszurichten, Menschen auf eine berufliche Tätigkeit in diesen Sparten vorzubereiten – von der Schule bis zur Umschulung. Übrigens ist es auch für jeden Einzelnen und natürlich auch für jedes Unternehmen sinnvoll, sich Gedanken über diese eigene Position in diesen Zukunftsfeldern zu machen – und danach zu handeln!
Science Fiction wird Realität
Jede einzelne dieser Disziplinen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. So birgt Virtual Reality längerfristig ein Potenzial, das heute noch kaum vorstellbar ist. In einer Traumwelt zu leben, die viel besser ist als die reale Welt – ist das nicht das Paradies auf Erden? Genau dies ermöglicht Virtual Reality zu Ende gedacht. Es gehört auch zu den besten Beispielen, warum unsere Gesellschaft eine „digitale Ethik“ benötigt. Wenn die Politik im digitalen Stillstand verharrt, wie das momentan der Fall ist, wird die digitale Elite, geprägt durch die Vordenker in Firmen wie Apple, Google, Facebook und Co. die ethische Vorreiterrolle übernehmen. Sie werden festlegen, ob die digitale Identität eines Menschen mit seinem Tod endet oder von Angehörigen und/oder Fans weitergepflegt werden darf. Ihre Software wird bestimmen, ob sich ein Flugzeug, das durch eine Cyber-Attacke als Waffe auf eine Großstadt gelenkt wird, zuvor selbst vernichtet und damit den Tod der Passagiere als „das kleinere Übel“ in Kauf nimmt. Wer wird künftig definieren, was menschlich ist – und was unmenschlich?