Thought Leadership
Von Hubert Notzwaki (ehem. Steuerfahnder, heute Steuerberater).
Egal, wohin wir blicken, vom Deutschen Bundestag bis zu den Vereinten Nationen: Die Regulierungswut einer ausufernden Bürokratie scheint nicht mehr zu bremsen. Jede noch so gute Idee wird in einem Wust von Vorschriften, Formularen und kleinlicher Überwachung zermürbt, bis von der einstmals grandiosen Vision – egal, ob es um die Parlamentarische Demokratie oder den Weltfrieden geht – kaum noch etwas zu sehen ist.
Ein Streifzug durch die Entwicklung der Öffentlichen Verwaltung von der Kameralistik bis zum sogenannten neuen Steuermodell bleibt am Ende bei der Erkenntnis des langjährigen Bundesministers Thomas de Maizière hängen, der 2021 anmahnte: „All das zeigt, dass es nötig ist, über diese Frage einer großen Staatsreform, jetzt zu reden.“ Eine Verwaltungsreform war indes schon bei de Maizières Amtsantritt als Staatssekretär mehr als 30 Jahre zuvor überfällig.
Aberwitziges Amtsdeutsch
Es gibt eine Vielzahl aberwitziger Beispiele für Behördenwahn. Dazu gehört das Amtsdeutsch. Der Zaun ist eine „nicht lebende Einfriedung“, der Baum ein „raumübergreifendes Großgrün“, die Schubkarre ein „einachsiger Dreiseitenkipper“, das Drehkreuz eine „Personenvereinzelungsanlage“, die Verkehrsampel eine „bedarfsgesteuerte Fußgängerfurt“ und – tatsächlich! – das Stammbuch eine „Lebensberechtigungsbescheinigung“. Aus einer „Kopie“ wird im amtlichen Jargon ein „Mehrstück“, die Möglichkeit, eine Leiter an eine Wand zu lehnen, heißt beim Amt „Anleiterbarkeit“, die Ablehnung eines Antrags wird zur „Versagung“, ein Transport per Hubschrauber etwa bei einem medizinischen Notfall zur „Luftverlastung“. Ein bundesweit einheitliches Amtsdeutsch mit möglichst einfachen und praxisnahen Begriffen wäre eine wichtige Maßnahme gegen den Wahn der Bürokratie.
„Demokratie vereinfachen, nicht beschneiden“
Denn es geht nicht nur darum, zu kritisieren, sondern es gilt auch, Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Dazu gehört unter anderem eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages. Das deutsche Parlament ist mit derzeit 735 Abgeordneten für 83,2 Millionen Deutsche so groß wie nie zuvor und liegt um 23 Prozent über der seit 2002 geltenden Richtgröße von 598 Abgeordneten . Zum Vergleich: In den USA genügen 535 Mitglieder im Kongress, um eine lebendige Demokratie mit 330 Millionen Einwohnern aufrecht zu erhalten.
Ein wesentlicher Grund für den XL-Bundestag ist das besonders bürokratische Wahlsystem in Deutschland. Ein Vorschlag zur Vereinfachung: In den derzeit 299 Wahlkreisen sollten 299 Abgeordnete nach dem Prinzip „Wer am meisten Stimmen bekommt, gewinnt“ direkt gewählt werden. Doch statt dieses einfachen Systems ziehen im deutschen Wahlsystem viele Abgeordnete über Landeslisten ein oder werden durch Kumulieren oder Panaschieren zu Parlamentariern. Panaschieren bezeichnet „die Möglichkeit bei Personen-Mehrstimmwahlsystemen mit freier Liste seine Stimmen auf Kandidaten verschiedener Listen zu verteilen“. Wer kein ausgemachter Bürokratie-Experte ist, stößt also schon bei den Grundlagen unserer Demokratie, nämlich dem Wahlsystem, an Verständnisschwierigkeiten. Die für 2025 in Aussicht gestellte Wahlreform – dann soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert werden – ist der falsche Weg. Es geht darum, das System zu vereinfachen, nicht die Demokratie zu beschneiden.
Qualität der Gesetze befindet sich im Sinkflug
Man muss leider feststellen, dass in den letzten Jahren zwar das Parlament an Größe gewonnen hat, aber die Qualität der vom Bundestag verabschiedeten Gesetz eher im Sinkflug begriffen ist. Hierzu einige wenige Beispiele von Vorlagebeschlüssen des Bundesfinanzhofs (BFH) an das Bundesverfassungsgericht, in denen der BFH dem Gesetzgeber erhebliche Qualitätsmängel testiert. So schrieb der BFH beispielsweise über das sogenannte Steuerentlastungsgesetz: „Inhalt und Systematik der Vorschrift erschließen sich bei hoher Fehleranfälligkeit allenfalls mit subtiler Sachkenntnis, außerordentlichen methodischen Fähigkeiten und einer gewissen Lust zum Lösen von Denksport-Aufgaben“. Und weiter monierte der BFH: „Die Mindeststeuerregelung ist unverständlich, widersprüchlich, unpraktikabel und nicht mehr justiziabel. Der chaotische Wortlaut ist ein Paradebeispiel für die Verletzung des Gebots der Normenklarheit, eine Meisterleistung an Verschleierungskunst.“
EU-Bürokratismus treibt einer neuen Blütezeit entgegen
Bei einer Kritik an der Bürokratie kommt man an der Europäischen Union nicht vorbei, etwa bei den Richtlinien für die Mindestlängen von Gurken (14 Zentimeter) und Kondomen (16 Zentimeter). Dem Argument der Bürokraten, dass die EU-Normen der heimischen Wirtschaft Vorteile verschafften („wer die Standards setzt, gewinnt den Markt“) widersprechen die Fakten: Von den hundert wertvollsten Unternehmen der Welt kommen lediglich zwölf aus der Europäischen Union (und übrigens nur zwei aus Deutschland). Dennoch treibt der EU-Bürokratismus einer neuen Blütezeit entgegen. Beispielhaft dafür steht die neue Taxonomie, ein EU-weites Klassifizierungssystem für die Bewertung ökologischer Nachhaltigkeit wirtschaftlicher Aktivitäten. Dem Green Deal, der bereits ein äußerst umfangreiches Vorschriftenpaket umfasst, mit der Taxonomie ein zweites ebenso großes Bürokratiemonster nachzuschicken, führt zu den wahrscheinlich höchsten Papierbergen auf der Erde. Wer ein 667 Seiten umfassendes Regelwerk auf einem Fundament aufbaut, bei dem grundlegende Fragen etwa bezüglich der Einordnung von Kern- und Gaskraftwerken politisch und gesellschaftlich höchst umstritten sind, ist entweder sehr mutig oder sehr…
Kampf gegen Corona: Undurchsichtig, unlogisch und unverständlich
Im Angesicht von Corona hat die Staatsmacht, vom Bundestag über die Landesbehörden bis zum Landrat im Nirgendwo, mit atemberaubender Geschwindigkeit ein undurchsichtiges und in weiten Teilen unlogisches und unverständliches Regeldickicht hervorgebracht. Zu den unzähligen kuriosen Beispielen zählt der im Rahmen der Kontaktbeschränkungen verwendete Begriff des „engsten Familienkreises“. Offenbar ist dem Gesetzgeber selbst im Nachhinein aufgegangen, dass dieser Begriff viel Interpretationsspielraum offenlässt, und er hat ihn mit Beispielen erklärt – doch die galten nicht in allen Bundesländern einheitlich. So hat Berlin beispielsweise zeitweise auch Menschen zur Familie erklärt, „die nicht im zivilrechtlichen Sinn enge Verwandte sind“. Das führte dazu, dass angeheiratete Ehepartner nicht an Familienfeiern etwa zu Weihnachten teilnehmen konnten, Freunde aber sehr wohl. Ebenso unverständlich: Gaststätten mussten trotz 1,5 Meter Abstand zwischen den Tischen wegen Ansteckungsgefahr schließen, aber im Flugzeug, wo die Menschen dicht gedrängt beieinander saßen, wurden Mahlzeiten ausgeteilt. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Der Staat war außer Rand und Band, heftig befallen von einem Regelwahn, der sich mindestens ebenso schnell ausbreitete wie das Virus.
Der Bürger geht ins Gefängnis, der Beamte wird gelobt
Immer wieder nimmt sich der Staat Rechte heraus, die er seinen Bürgern verbietet. Dazu gehört beispielsweise die Datenhehlerei, also die Nutzung von Daten, die durch eine rechtswidrige Tat erlangt wurden. Bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe drohen bei Zuwiderhandlungen – außer, der Staat betätigt sich selbst als Datenhehler, um gestohlene Datenträger anzukaufen und dadurch Steuersünder ausfindig zu machen. Der Bürger geht dafür ins Gefängnis, der Finanzbeamte erhält eine Belobigung. Wer sich angesichts eines solchen Rechtssystems über Staatsverdrossenheit beklagt, dem ist der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen.
Ein Witz geht seinen Amtsweg
Ein besonders kurioser Fall des Bürokratismus ist die Anerkennung der „Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Deutschland“ (KdFSMD) als eine nach deutschem Recht den Religionsgemeinschaften – also etwa der Kirche – gleichgestellte Weltanschauungsgemeinschaft. Mit dem Fall hatten sich unter anderem das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasst. Das Örtchen Templin in der Uckermark gewann weltweite Beachtung, als die KdFSMD am Ortseingang auf einem offiziellen Schild auf die „Nudelmesse“ hinweisen durfte. Bis zuletzt hatten die christlichen Kirchen versucht, der Scherzkirche zu verbieten, was ihnen erlaubt ist: Hinweisschilder auf die Zeiten, an denen Gottesdienste abgehalten werden, aufzustellen. Doch letztendlich war sogar die Kirche am Bürokratismus gescheitert. Einen Scherz gibt es im Beamtenapparat nun einmal nicht. Ein Witz, und sei er noch so lächerlich, der allen formalen Anforderungen genügt, geht seinen Weg durch die Bürokratie.
UNO: die größte Bürokratie der Welt
Die UNO ist das Paradebeispiel für Bürokratismus, sie ist die wohl größte Bürokratie der Welt. So werden die regelmäßigen Beiträge, die alle Mitgliedsstaaten den Vereinten Nationen jährlich überweisen, überwiegend von den Personalkosten aufgezehrt. Die Kriege, der Hunger, das Elend in der Welt – alles will ordentlich verwaltet werden. Sofern die UNO tatsächlich aktiv wird, um über die Verwaltungsakte hinaus den Menschen zu helfen, sind die Staaten gefordert, dafür extra zu zahlen, von den Friedenseinsätzen der Blauhelme über das Kinderhilfswerk bis zum Welternährungsprogramm.
Das iPhone als Vorbild für Vereinfachung
Einen Ausweg aus dem Bürokratismus würde eine konsequente und alle Bereiche der Öffentlichen Hand durchdringende Vereinfachung darstellen. Wir brauchen keine 3.700 verschiedenen DIN-Normen für das Bauen in Deutschland und keine 680 unterschiedlichen Verkehrszeichen.
Die Forderung nach Vereinfachung lässt sich anhand einer Analogie aus der Technikwelt darstellen. Als das zwischenzeitlich verstorbene Tech-Genie Steve Jobs 2007 das iPhone vorstellte, trat es seinen Siegeszug nicht wegen seiner technischen Überlegenheit an, sondern weil es besonders einfach zu bedienen war. Man sah das Symbol eines Taschenrechners oder eines Briefumschlags auf dem Bildschirm, drückte darauf und konnte seine Berechnung beginnen bzw. den Posteingang kontrollieren. Die dahinter steckende Technologie, der berührungsempfindliche Screen mit Multitouch-Funktionalität und die aufwändigst programmierte Software, waren äußerst kompliziert, aber aus Sicht des Nutzers war das Gerät intuitiv bedienbar, also ohne Bedienungsanleitung. Wenn es der Politik gelingt, Gesetze und Verordnungen zu entwickeln, die komplexe Sachverhalte für die Bevölkerung vereinfachen statt sie zu verkomplizieren, dann erledigen die gewählten Politiker ihre Aufgabe mit Bravour – andernfalls nicht.
Erst vereinfachen, dann digitalisieren
Zur Vereinfachung genügt es allerdings nicht, die heutigen Behördenabläufe in Computersysteme zu verfrachten. Laut Umfragen sind mehr als drei Viertel der Bürger mit dem heutigen Angebot an digitalen Verwaltungsservices unzufrieden . In der Gruppe der 18- bis 29-jährigen, die in einer digitalen Welt groß geworden sind, nutzen demnach zwar 90 Prozent die E-Government-Angebote, aber nur elf Prozent sind mit dem Angebot zufrieden. Man muss erst vereinfachen und dann digitalisieren, nicht umgekehrt.
Innovative Vorschläge landen im Museum
Wie politisch schwierig eine Vereinfachung ist, zeigt das „Bierdeckel-Beispiel“: 2003 präsentierte der damalige stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion und heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die Idee einer dreistufigen Einkommensteuer, die so einfach sein sollte, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Das Konzept sah nur drei Steuersätze und den Wegfall zahlreicher Steuervergünstigungen vor. Außerdem sollte es statt der sieben Einkunftsarten im deutschen Steuerrecht nur noch vier geben. Der Bierdeckel steht heute in einer Vitrine im Bonner Haus der deutschen Geschichte ausgestellt, geradezu als Symbol dafür, wie die Politik mit innovativen Vorschlägen umgeht. Ebenso unbeachtet blieben die Vorschläge des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof. 2011 legte er auf beinahe 1.300 Seiten ein „Bundessteuergesetzbuch – Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts“ vor. Aus den mehr als 200 Steuergesetzen sollte ein einziges Gesetz werden, und die fast 40 Steuerarten könnten auf vier reduziert werden. Jede derart rigorose Vereinfachung wurde in einer Kakophonie der Gegenargumente zertrampelt. Geblieben ist ein Steuersystem, das weiterhin so kompliziert ist, dass es selbst von Experten häufig nicht in allen seinen Verästelungen verstanden wird.
Ein Parlament, das sich um die Zukunft Deutschlands sorgt, und das ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages, muss sich daran messen lassen, ob es gelingt, das Regelwerk des Staates auf ein Maß zu stutzen, das überschaubar, verständlich und für die Bevölkerung nachvollziehbar ist. Es wird immer einen konstruierten oder realen Fall geben, bei dem ein Gesetz mehr, eine genauere Präzisierung oder ein Ausnahmetatbestand besser gewesen wäre, zu mehr Gerechtigkeit geführt oder die Sicherheit erhöht hätte. Doch es ist ein Irrglaube, dass immer mehr Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, Bußgeldkataloge oder sonstige Regularien, Rechtsnormen oder technische Standards zu einer besseren, sichereren und gerechteren Welt führen werden.