Indien ist heute die am schnellsten wachsende große Wirtschaftsmacht und die fünftgrößte überhaupt. Damit hat sich das Land binnen zehn Jahren von Platz zehn auf Platz fünf vorgearbeitet. Die derzeitige Wachstumsrate liegt bei 7,2 Prozent. Bis spätestens 2028 will Indien zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt werden. Die flächendeckende Digitalisierung des Landes stellt eine entscheidende Grundlage für diese fulminante Entwicklung dar. Und die Bevölkerung profitiert massiv von dieser Strategie. Das waren die Kernbotschaften, mit denen der indische Generalkonsul M.S. Mubarak als Keynote Speaker viele Teilnehmer des diesjährigen Frühlingsfestes des Diplomatic Council verblüffte. „Die Inder haben nicht nur einen Plan, sondern setzen ihn sogar um“, war allenthalben als gemurmelter Vergleich zu Deutschland zu hören.
Digitalisierung mit Dreiklang
Generalkonsul M.B. Mubarak gab tiefgehende Einblick in die 2015 begonnene indische Digitalisierungsstrategie zugunsten der Bevölkerung (Digital India: Power to Empower). Grundlage bildete ein Dreiklang aus der landesweiten Einführung einer digitalen Identität, einem Smartphone und – in Europa selbstverständlich, dort nicht – einem Bankkonto für jedermann. Die Kausalkette: Dank Digital-ID kann jeder Inder über sein Smartphone binnen weniger Minuten ein eigenes Konto eröffnen. Wer schon einmal ein Bankkonto in Deutschland eingerichtet hat, weiß, dass dies im besten Fall ein tagelanger und in der Regel ein wochenlanger Prozess ist. Für die indische Bevölkerung war dies ein großer Schritt nach vorne, denn nur mit einem Konto kann man ernsthaft am Wirtschaftsleben teilnehmen. in Zahlen: 2011 hatten lediglich 20 Prozent der Menschen in Indien ein Bankkonto, 2019 waren es bereits über 80 Prozent. Ohne konsequente Digitalisierung hätte diese Entwicklung 47 Jahre gedauert, rechnet Generalkonsul M.S. Mubarak den Teilnehmern am Frühlingsfest des Diplomatic Council vor. „In Deutschland wohl eher 100 Jahre“, raunt mir mein Tischnachbar zu, wohl anspielend auf die an beinahe in jeder Hinsicht mangelhafte deutsche Digitalisierungsstrategie, wobei der Begriff „Strategie“ ein bisschen hochgegriffen erscheint. Zurück nach Indien.
5G-Mobilfunk und UPI
Parallel dazu errichtete Indien ein quasi flächendeckendes 5G-Mobilfunknetz und führte eine Universal Payment Infrastructure (UPI) ein, die von den Menschen sehr gut angenommen wurde. Das hängt auch damit zusammen, dass die Preise für Smartphones und für die mobile Datenübertragung dramatisch sanken. Letzten Sommer wurde erstmals die Marke von zehn Milliarden UPI-Transaktionen in einem Monat überschritten (2016 waren es noch lediglich 100 Millionen Transaktionen monatlich). Mit Bargeld zahlen in Indien im Grunde nur Ausländer (UPI funktioniert nur mit einem indischen Bankkonto). 48 Prozent aller digitalen Echtzeitzahlungen weltweit laufen weder über Mastercard, Visa oder Apple Pay, sondern über UPI. Schöner Nebeneffekt für die indische Regierung: Durch die konsequente Digitalisierung des Zahlungswesens vervierfachte sich das Wachstum beim Steueraufkommen, so dass sich „Digital India“ unter anderem auf diese Weise refinanziert.
Wohlstand und Selbstbewusstsein
Die Digitalisierungsstrategie hat nicht nur den Wohlstand des Landes vermehrt, sondern auch das Selbstbewusstsein der indischen Bevölkerung, macht der Generalkonsul klar: Wer heute in Indien studiert, träumt häufig nicht mehr von einer Karriere in den USA, sondern will oftmals im eigenem Land ein Unternehmen gründen. Jeden Tag (!) entstehen 80 neue Startups in Indien. Jedes zehnte sog. „Unicorn“ weltweit – das sind Startups mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar – hat seinen Sitz in Indien. Insgesamt zählt Indien 111 Einhörner mit einer Marktkapitalisierung von zusammen rund 350 Milliarden Dollar. Allein 2021/22 wurden 45 neue Unternehmen in Indien gegründet, die schon heute die Milliarden-Schwelle überschritten haben.
Wie gewaltig die „indischen Personalressourcen“ nicht nur für das eigene Land, sondern potenziell auch für die Welt sind, machte Generalkonsul M.S. Mubarak beim Diplomatic Council sehr deutlich: rund eine Milliarden Menschen unter 35 Jahre. Ein Viertel aller Menschen weltweit, die über einen Abschluss als Ingenieur verfügen, sind in Indien geboren. Als „Talent Hub of the World“ bezeichnete der Generalkonsul sein Land mit erkennbarem Stolz.
Fachkräfte aus Indien
Wie kann es gelingen, Fachkräfte aus Indien nach Deutschland zu holen? Vor allem, indem wir sie als Studenten an deutschen Universitäten und Hochschulen ausbilden. In dieser Studienzeit entwickeln sie eine emotionale Bindung an Deutschland und empfinden das Gastland als ihre Heimat, die sie später nicht aufgeben. Inder, die über diese Phase hinaus sind, zieht es hingegen kaum nach Deutschland, sondern – sofern sie nicht ohnehin im eigenen Land bleiben wollen – entweder in umliegende asiatische Länder oder in die USA.
Digitalisierung als Treiber der Demokratie
Digitalisierung ist auch ein Treiber der Demokratie, verdeutlicht der Generalkonsul; derzeit wird dort bekanntlich gerade ein neues Parlament gewählt. Es gibt 970 Millionen Wahlberechtigte und eine Million Wahllokale, die seit 19. April für sechs Wochen geöffnet sind. Wobei die Wahllokale in Wirklichkeit elektronische Wahlautomaten sind. Da aller Digitalisierung zum Trotz noch etwa 20 Prozent der Menschen dort Analphabeten sind, zeigt der digitale Kasten neben jeder Partei ein dazugehöriges Symbol wie bspw. eine Lotusblüte. Damit jeder Wahlberechtigte im Umkreis von zwei Kilometern seine Stimme abgeben kann, sind 5,5 Millionen Wahlautomaten in Betrieb, vom Dschungel bis zum Himalaya. Doch nicht alles ist digital: Um zu verhindern, dass jemand zweimal wählt, bekommt man nach der Stimmabgabe einen wasserfesten violetten Strich auf den Nagel des Zeigefingers. Bis der Nagel ausgewachsen ist, ist die Wahl beendet. Demokratie kostet: Indiens Wahl ist mit 14 Milliarden Euro wohl die teuerste der Welt. Generalkonsul M.S. Mubarak postuliert eine „Celebration of Democracy“.