Thought Leadership
Von DC Mitglied Helmut von Siedmogrotzki*
In Russland verbrennen Wälder von der Größe Siziliens, Naturkatastrophen reihen sich aneinander mit immer verheerenderen Folgen, unsere Fischbestände sind verseucht mit Antibiotika und Mikroplastik, Tier- und Pflanzenarten sterben massenweise aus, Trinkwasser wird ein immer knapperes Gut. Diese und ähnliche Ereignisse sind die Konsequenzen des ungehemmten Raubbaus an den natürlichen Ressourcen und eines unbekümmerten massenhaften Konsums. Unser Wirtschaftsmodell ist auf Wachstum ausgerichtet – nicht nur im Kapitalismus, selbst im kommunistischen China. Ohne Wachstum keine Beschäftigung, keine Investitionen, keine Innovationen und kein Wohlstand – so lautet das Dogma. Nur wohin und wie lange wollen wir wachsen? Es ist eine unbestrittene Erkenntnis, dass endloses Wachstum bei endlichen Ressourcen schlicht unmöglich ist.
„Wer glaubt, exponentielles Wachstum könnte in einer endlichen Welt unendlich weitergehen, ist entweder ein Wahnsinniger oder Wirtschaftswissenschaftler.“ (Kenneth Boulding bei einer Anhörung des US-Kongresses 1973).
Bei einer Weltbevölkerung von erwarteten 9,7 Milliarden Menschen im Jahr 2050 dürfte unser Ökosystem bei unveränderten Wachstumsraten des Pro-Kopf-Einkommens und unverändertem Konsumverhaltens an seine Belastungsgrenzen stoßen.
Ende 2015 haben 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die „Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung“ mit 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) vereinbart. Die Agenda zielt darauf ab, Armut zu beenden, den Planeten zu schützen und Wohlstand für alle zu erreichen. Aber was bedeutet Wohlstand? Und geht Wohlstand einher mit größerer Zufriedenheit? Tatsache ist, dass der Katalog der zu den Grundbedürfnissen zählenden Gütern in den Wohlstandsländern stetig gewachsen ist, die Zufriedenheit aber relativ abgenommen hat.[ii] Mehrere Studien belegen, dass die Zunahme an Lebenszufriedenheit ab einem bestimmten Einkommensniveau nicht nur nicht mehr zunimmt, sondern sogar stark abnimmt.
Die seit Jahren stärker werdende Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit mit den Lebensumständen, Selbstzweifel und Misstrauen gegenüber den Regierungen in den westlichen Industriestaaten vor allem in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie mag hierin eine Erklärung finden. Die Urbanisierung hat immer mehr Menschen in anonymen Wohnblocks zusammengebracht und uns gleichzeitig stetig von der Natur entfernt. Wir wünschen uns das Frühstücksei, aber klagen gegen den störenden Hahnenschrei. Die Digitalisierung tut ein Übriges, uns aus dem Rhythmus der natürlichen Zeitenfolgen zu entrücken. Die Folgen sind soziale Armut, Aggressivität und permanente Stresssituationen. In diesem Lebensumfeld bahnt sich eine steigende Unzufriedenheit ihren Weg in Form von gewalttätigen Besuchern von Fußballstadien, Steine werfenden, aggressiven Demonstranten und Angriffen auf unschuldige Bürger.
Landfressende Städte und fortschreitende Vernichtung von Habitaten von Flora und Fauna verengen die Lebensgemeinschaft von Menschen und Wildtieren. Dies wiederum begünstigt die Übertragung von Viren vom Tier auf den Menschen und fördert die Ausbreitung von Pandemien wie Covid-19 oder Ebola.
Fortgesetztes Wachstum wird uns am Ende (vielleicht) einen höheren Lebensstandard, jedoch nicht mehr Lebenszufriedenheit bringen. Das ungehemmte Wachstum erschöpft uns selbst und unser Ökosystem. In großen Teilen der Erde werden sich die Lebensumstände dramatisch verschlechtern und eben diesen Wohlstand gefährden. Ein Paradigmenwechsel in der Gestaltung unseres Wirtschaftssystems und unserem Verständnis von Wohlstand ist notwendig.
* Helmut von Siedmogrodzki berät mit seiner Firma Siebenburg Internationalmittelständische Unternehmen bei ihren Investitionen in China und dem mittleren Osten. Er befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema nachhaltiger Unternehmensführung und Wirtschaftswachstum und ist Autor des vielbeachteten Buches „Unser Planet am Limit – Wie wir das Wachstums-Paradigma überwinden
und dabei glücklicher werden (ISBN: 978-3-98674-118-1).