Thought Leadership
Man kann verstehen, wenn so manch einem aufrechten Demokraten in der Krise Bange wird ob der Frage nach der Rechtsstaatlichkeit der Maßnahmen. Es ist frappierend, wie die Politik mit der Angst vor der Ansteckung beinahe jede Freiheitsbeschränkung bei der Bevölkerung durchsetzen kann und dafür sogar noch Zustimmung erhält. So sind in der Krise zeitweise 90 Prozent der Deutschen mit den von der Politik verfügten Ausgangsbeschränkungen einverstanden. Wann hat eine demokratisch gewählte Regierung in Deutschland jemals Zustimmungswerte von 90 Prozent? Nie zuvor!
Man mag diese Hörigkeit harsch kritisieren, hinter ihr ein historisches Obrigkeitsdenken vermuten. Es gibt aber auch die umgekehrte Interpretation: Die Mehrzahl der Deutschen stuft die Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland als derart gefestigt ein, dass sie vorübergehende Einschränkungen angesichts einer Gefahrensituation gelassen nimmt. Angela Merkel wird nicht verdächtigt, eine dauerhafte Machtfülle wie Russlands Wladimir Putin, Chinas Xi Jinping oder Recep Erdogon aus der Türkei auf sich zu vereinen. Die Einschränkungen werden daher weniger als Maßnahmen der Politik, sondern vielmehr der Wissenschaft und der Vernunft eingestuft. Die Menschen sind überwiegend zu Hause geblieben, nicht, weil es ihnen der Staat vorgeschrieben hat, sondern weil sie selbst die Gefahr durch das Virus für sich und die Gesellschaft erkannt haben. Der Großteil der Bevölkerung hat nicht das Gefühl, bevormundet zu werden, sondern sieht die Politik als ausführende Kraft eines gemeinsamen Interesses, nämlich die Ausbreitung des Virus zu stoppen.
Es liegt wohl im Auge des Betrachters, welche dieser beiden Varianten man sieht.