Thought Leadership

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Jens Gnisa
Richter Jens Gnisa beim Diplomatic Council

In einer Online-Runde exklusiv für Mitglieder sprach der wohl berühmteste Richter Deutschlands, Jens Gnisa, ehem. Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, Tacheles zur heutigen Situation von Rechtsstaat und Demokratie. Im folgenden werden einige der Schlüsselaussagen des Abends dargelegt. Dabei gilt es nicht nur die aktuelle „Corona-Zeit“ ins Auge zu fassen, sondern auch die Entwicklungen davor.

Gnisas Kernthese: Es geht der Bevölkerung in Deutschland seit Jahren objektiv betrachtet immer besser. Dennoch wächst die Unzufriedenheit der Bürger Jahr für Jahr. Die Politiker spüren diese wachsende Unzufriedenheit, aber sie verstehen nicht, woher sie kommt. Die Bürger wiederum fühlen sich unverstanden und in ihrer Kritik nicht ernst genommen. Daraus erwächst eine Spaltung unserer Gesellschaft in Verantwortungsträger einerseits und Normalbürger andererseits. Beide Seiten fühlen sich wechselseitig unverstanden.

Darunter leidet auch unser Rechtssystem. So gehen über 50 % der Bürger nicht davon aus, dass vor Gericht derjenige gewinnt, der Recht hat, sondern derjenige, der den besten Anwalt hat. Lediglich 39 Prozent haben Vertrauen in die Justiz. Dieses mangelnde Vertrauen basiert zu einem erheblichen Teil schlichtweg auf Unkenntnis und Missverständnissen. So ist es zwar richtig, dass es rund 175.000 nicht vollstreckte Strafbefehle in Deutschland gibt, aber beim weitaus größten Teil davon handelt es sich um Ordnungswidrigkeiten etwa wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung. Viele Menschen glauben zudem, dass die Kriminalität in Deutschland in den letzten Jahren angestiegen ist. Die Kriminalstatistik belegt das Gegenteil. Gestiegen ist indes die Furcht vor Kriminalität. Der gelegentlich geäußerte Vorwurf, Richter würden teilweise zu lasch urteilen, ist unbegründet. Das damit verbundene Missverständnis: besonders harte Strafen würden die Kriminalität reduzieren. Die USA zeigen, wie falsch diese Annahme ist. Obgleich in den USA in der Regel deutlich härtere Strafen selbst für kleinere Vergehen verhängt werden, ist die Kriminalitätsrate dort weitaus höher als in Deutschland.

Diese Kluft zwischen Realität und Wahrnehmung hat zu einem Niedergang der Debattenkultur nicht nur aber eben auch in Deutschland geführt. Wir haben es verlernt, vernünftige Debatten zu führen, das heißt, andere Meinungen wertzuschätzen, auch wenn wir selbst anderer Meinung sind. Diese Entwicklung ist in der Flüchtlingskrise sichtbar geworden, als es verstärkt zur Furcht in der Bevölkerung kam, ihre Anliegen und ihre Sicherheit sei der Politik nicht wichtig. Der alte Grundsatz von Helmut Schmidt „Politik muss Probleme lösen“ schien und scheint verloren gegangen zu sein. Die Bürger haben in weiten Teilen das Gefühl, die Verantwortlichen haben die Probleme eben nicht im Griff. Ein Rechtsstaat muss robust und handlungsfähig sein und sich durchsetzen können und wollen. Genau daran haben Menschen immer mehr Zweifel.

Einer der Gründe, warum es immer schwieriger wird, in sachlichen Debatten um die beste Lösung zu ringen, liegt in der zunehmenden Moralisierung. Sachargumente verlieren an Gewicht gegenüber moralischen Überlegungen. Haltung wird wichtiger als Recht und Sachlagen. Indes ist das Recht fundamental: Das Recht definiert, was erlaubt und was verboten ist. Das ist der Kern eines Rechtsstaats. Moral hingegen teilt weitgehend losgelöst davon in gut und böse ein. Während die „moralische Keule“ im politischen Spektrum häufig links zu finden ist, steht dem gegenüber das nicht weniger kritisch zu betrachtende „gesunde Volksempfinden“ von rechts. Mit Rechtsstaatlichkeit hat beides nichts zu tun; im Rechtsstaat geht es nur darum, was gesetzlich verankert erlaubt oder verboten ist. Diese Moralisierung schwächt das Rechtssystem, die Demokratie und die Debattenkultur. Wir leben heute in einem Deutschland, in dem man seine Meinung zwar frei äußern darf, aber mit teilweise hohen sozialen Folgekosten rechnen muss, wenn man das im öffentlichen Raum tut. Das führt dazu, dass die Menschen den Eindruck gewinnen, man dürfe überhaupt nicht mehr seine Meinung sagen oder sich aus Angst vor den sozialen Folgen nicht mehr trauen, ihre Meinung offen auszusprechen.

Zu der stetigen Moralisierung gesellen sich eine fortwährende Emotionalisierung und eine ständige Skandalisierung. Das  Ringen um Aufmerksamkeit um beinahe jeden Preis ist zum Selbstzweck geworden. Diese Entwicklung geht einher mit einem unaufhaltsamen Verlust von Respekt vor Institutionen und Personen. Doch diese Institutionen und die darin handelnden Amtspersonen stellen die Grundlage für unseren Rechtsstaat und letztlich unsere Demokratie dar. Daher beobachten wir mit Sorge eine zunehmende Erosion des Rechtsstaats und der Demokratie.

Diese Entwicklung hängt auch damit zusammen, dass die Bürger die staatlichen Strukturen immer mehr überfordern und frustriert sind, wenn nicht alle Forderungen vollumfänglich erfüllt werden können. Die Bürger erwarten zunehmend, vor allen Gefahren des Lebens geschützt zu werden. Sie verlangen, dass Sicherheit für alles und jedes vom Staat garantiert wird. Doch diese Aufgabe vermag kein Staat zu leisten.

Als Hauptgrund hierfür hat Jens Gnisa die immer weiter schwindende Risikobereitschaft der Menschen identifiziert. Je besser es den Bürgern geht, desto mehr verlangen sie, dass das hohe Niveau gehalten wird, und desto weniger sind sie bereit, ein Risiko einzugehen. Diese Tendenz zur Sicherheitsgesellschaft führt zu einer strukturellen Rechtsverdichtung. Je mehr Sicherheit für möglichst alle Aspekte des Lebens gefordert wird, desto mehr Bürokratie ist erforderlich.

Hinzu kommt, dass jeder tatsächliche oder vermeintliche Fehler in der „Sicherheitsbürokratie“, jedes mögliche Risiko in unserer Gesellschaft sofort und lautstark Kritik hervorruft. Der Kritiker wird zum Star. Und da der Staat das stetig steigende Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung in allen Lebensbereichen per se nicht abzudecken vermag, treten immer mehr Kritiker auf den Plan, die jedes kleinste Risiko emotionalisieren und skandalisieren. 

Die Medien tragen zu dieser Entwicklung kräftig bei, indem sie jedes Thema beinahe losgelöst vom Sachverhalt emotionalisieren. Durch das Internet sind die Medien schon vor langem in starke ökonomische Zwänge geraten, was zu einem Qualitätsverlust in der Berichterstattung geführt hat. Um dennoch die immer wichtigere Aufmerksamkeit zu erhalten, bedienen sie sich der Emotionalisierung. Hinzu kommt das Umsichgreifen von Haltungsjournalismus, der wiederum die Moral vor den Sachverhalt stellt oder jedenfalls jeden Sachverhalt moralisch einzuordnen versucht. Das hat dazu geführt, dass sich ein Teil der Bevölkerung mit ihrer eigenen Haltung in den klassischen Medien nicht mehr wiederfindet - und ins Internet abwandert. Denn in den sozialen Netzen findet jeder Bürger passende Meldungen und Meinungen, die seiner eigenen Haltung entsprechen. Die Algorithmen der sozialen Netzwerke fördern diese Einkapselung, in der andere Ansichten wahlweise als falsch oder unmoralisch abgetan werden.

Durch diese Entwicklungen ist eine Gesellschaft der Rechthaber und Kritiker entstanden, in der zusehends Aggressivität und Hass die Oberhand gewinnen. Damit ist eine Entdemokratisierung verbunden, die es zu stoppen gilt. Dazu müssen wir zu einer vernünftigen Debattenkultur zurückfinden. Der Austausch von Sachargumenten losgelöst von der Person stellt den Kern der Demokratie und des Rechtsstaats dar. Dieser Wandel kann nur gelingen, wenn sich möglichst viele Menschen von der Kritikerrolle lösen und zu Machern werden.

In diesem Sinne sind wir alle aufgefordert, uns aktiv in die Politik und die Gesellschaft einzubringen!