Thought Leadership
In beinahe allen Religionen gilt der Tod seit Menschengedenken als ein unausweichliches Schicksal. Das Epos von Gilgamesch, die Bibel, der Koran, die Veden der Hindus - überall steht geschrieben, dass wir sterben, weil Gott oder der Kosmos oder Mutter Natur es so wollen. Wir Menschen haben demütig zu akzeptieren, dass jeder von uns eines Tage die irdische Welt verlassen muss und es gibt nichts, was wir dagegen tun können.
Wissenschaft gegen den Tod
Doch dann kam die wissenschaftliche Revolution und mit ihr die Gewissheit, dass der Tod kein göttliches Dekret ist, sondern ein technisches Problem. Wir sterben nicht, weil uns ein göttliches Wesen abberuft, sondern weil unser Herz aufhört zu schlagen, Krebszellen unsere Organe zerstören oder ein Virus unsere Lunge auffrisst. Aber technische Probleme in den Griff zu bekommen, das ist das Wesen unserer modernen wissenschaftsbasierten Gesellschaft. Unsere moderne Welt gibt sich fest davon überzeugt, dass wir für jedes technische Problem über kurz oder lang eine technische Lösung finden. Zu Ende gedacht heißt das nichts anderes, als dass wir uns auf dem Weg befinden, ewig zu leben.
Tatsächlich ist die Lebenserwartung in den vergangenen zwei Jahrhunderten von unter 40 Jahren auf 72 in der ganzen Welt und auf über 80 in den Industrieländern gestiegen. Nicht zuletzt dieser Erfolg hat unser Weltbild grundlegend verändert. Während für traditionelle Religionen das Leben nach dem Tod der eigentliche Sinn der Existenz war, hat unsere Gesellschaft spätestens seit dem 18. Jahrhundert jegliches Interesse am Leben nach dem Tod verloren. Wir wollen jetzt und auf ewiglich leben.
Religionen folgen der Wissenschaft
Umso gravierender ist es, wenn im Jahr 2020 ein todbringendes Virus die Menschen aller Religionen und aller Ideologien den Spiegel vor Augen hält: die eigene Sterblichkeit. Wird es unsere Gesellschaft lehren, künftig dem Tod demütiger gegenüber zu stehen? Sicherlich nicht! Ganz im Gegenteil ist die Reaktion auf das Coronavirus weder Demut noch Resignation, sondern ein weltweiter Wettlauf der Wissenschaft, so rasch wie möglich die Lösung für das überraschend aufgetauchte Problem zu finden. Kaum einer lässt sich damit trösten, dass das Virus vielleicht eine göttliche Vergeltung für die Sünden der Menschheit sei, und hofft auf eine besseres Leben im Jenseits. Die katholische Kirche weist die Christen an, sich von Gottesdiensten fernzuhalten. In Israel schließen die Synagogen. Die Islamische Republik Iran bestraft Gläubige, die Moscheen aufsuchen. Mit anderen Worten: Selbst die ältesten Religionen der Welt vertrauen eher den Erkenntnissen der Wissenschaft - Abstand halten hilft gegen Ansteckung - als ihren eigenen religiösen Grundfesten.
Lebensdauer 125 bis 140 Jahre
Die Demut der Menschen vor dem Tod wird nicht zurückkehren, sicherlich nicht in den nächsten Jahrzehnten, vermutlich auch nicht in den nächsten Jahrhunderten, möglicherweise nie mehr. Der Glaube an das Leben nach dem Tod ist überwiegend dem Glauben an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt gewichen. Die Gewissheit, dass es „irgendwann“ gelingen wird, die Menschen „ewig“ im Diesseits leben zu lassen, ist höher als die Gewissheit auf ein Leben nach dem Tod. Die Pandemie 2020 wird daran gewiss nichts ändern. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Menschen künftig noch viel älter als heute werden. Die bisher älteste Person, die Französin Jeanne Calment, starb 1997 im Alter von 122 Jahren. Einige Forscher legen eine Obergrenze für das menschliche Leben von maximal 125 Jahren nahe. Andere meinen, dass Menschen in Zukunft bis zu 140 Jahre alt werden könnten. Versuche mit Tieren haben in der Kombination aus gesunder Ernährung, gentechnischen Eingriffen und medikamentöser Behandlung bereits eine Verlängerung der Lebensspanne um bis zu 30 Prozent bewirkt. Bis zum „ewigen Leben“ wird es auf jeden Fall noch lange dauern.
Resilienz und Lebensglück
Eines der Schlagworte, das in der Pandemie hervorgetreten ist und die Krise überleben wird, lautet Resilienz. Damit ist die Fähigkeit der Menschen gemeint, nach Schicksalsschlägen wieder zu einem zufriedenen, erfüllten Leben zu finden. Psychologen, Ärzte, Forscher und Therapeuten haben lange Jahre an der Frage geforscht, was einen Menschen resilient macht. Mehrere Langzeitstudien kamen zu einem klaren Ergebnis: Man braucht von Kindesbeinen an mindestens einen Vertrauten, der einen mag, fördert und ermutigt. Das Vertrauen in sich selbst und die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu erkennen, Probleme anzugehen und das Leben zu gestalten, entsteht in der Kindheit durch die Erfahrung der sicheren Bindung an einen anderen Menschen. Das können die Eltern sein, aber auch ein Nachbar, Lehrer oder Erzieher.
Weitgehend losgelöst von der Lebensdauer, aber eng verknüpft mit der Resilienz ist das Lebensglück eines Menschen zu betrachten. Umfragen mitten in der Pandemie haben gezeigt, dass die Menschen in Deutschland überwiegend besonnen und voller Zuversicht sind, die Krise zu überstehen. Von der sogenannten „German Angst“ ist wenig zu spüren. Viele schätzen sich glücklich, im wörtlichen und im übertragenen Sinne zu überleben. Urplötzlich geht es nicht um „immer mehr“, wie all die Jahre und Jahrzehnte zuvor, sondern darum, das zu bewahren, was man ist und was man besitzt. Das wird weite Teile der Gesellschaft die ganzen 2020er Jahre hindurch prägen. Das bedeutet mehr Besonnenheit, mehr Bescheidenheit, mehr Zufriedenheit mit dem Ist-Zustand statt ständiges Streben nach einem vermeintlich noch besseren Leben und - die Anbieterseite wird es zu beklagen haben - mehr Vorsorge und weniger Konsum.