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Thüringen
Thüringen ist nicht neu

In weiten Teilen der medialen Gesellschaft wird so getan, als ob mit der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen eine völlig neue Situation geschaffen worden sei. Das ist keineswegs der Fall. Die Wurzeln reichen mindestens bis in das Jahr 2010 zurück. Es begann mit einem Oxymoron.

Was haben das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, das Sparprogramm des griechischen Staates, der Krieg in Afghanistan und die NATO gemeinsam? Sie sind alternativlos, jedenfalls nach Überzeugung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2010.

Das Wort „alternativlos“ ist im Jahr zuvor schwer in Mode gekommen und wird im Januar 2011 zum „Unwort des Jahres 2010“ gewählt. Dieser politische Neusprech soll ausdrücken: Wir sind hilflos. Wir können nichts anderes tun. Die Umstände zwingen uns, das zu tun, was wir tun. Für Angela Merkel ist es wohl das Pendant zum „Basta“ ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder, der damit ein klares „Ich will das so“ ausdrückt. Merkel ist Physikerin, sie erhebt ihre Ansicht mit „alternativlos“ auf die Ebene eines Naturgesetzes. Naturgesetze sind alternativlos, der Mensch hat in seinem Handeln immer Alternativen. Merkel will mit der Wortwahl ausdrücken, dass ihre Ansicht einem Naturgesetz gleichkommt und daher jeder Widerstand zwecklos wäre.

Die Oxymoron-Lüge

Tatsächlich ist die gern verwendete „alternativlose Entscheidung“ ein sogenanntes Oxymoron, eine Verknüpfung von zwei Dingen, die sich widersprechen, man könnte auch sagen, eine Lüge. Wäre die Situation ohne Alternative, also ohne Wahlmöglichkeit, gäbe es nichts zu entscheiden. Sobald eine bewusst getroffene Entscheidung fällt, hätte es eine Alternative gegeben. Gäbe es gar keine Alternative, bräuchte man auch keine Politiker. Welchen Arbeitsauftrag hätten sie denn auch, wenn der Lauf der Dinge ohnehin schicksalsbestimmt vorgegeben ist?

Politische Semantik ist stets entlarvend. Wer Worte wählt, die es eigentlich gar nicht gibt, will damit etwas ausdrücken. Alternativlos ist wohl das Eingeständnis der Hilflosigkeit: Die Dinge sind größer als wir, größer als die Bundeskanzlerin Deutschlands, die mächtigste Frau der Welt, die mit „alternativlos“ das Regieren längst preisgegeben hat. Was Angela Merkel zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen kann: Sie legt mit ihrer „Alternativlosigkeit“ den Grundstein für die Gegenbewegung, für die Alternative für Deutschland.

Nach der Wahl von „alternativlos“ zum Unwort des Jahres 2010 schaltet die Bundeskanzlerin übrigens um, nicht politisch, aber wenigstens semantisch. Im März 2011 verwendet sie das Synonym „unumgänglich“, übrigens in Bezug auf eine Reform, die ganz sicherlich so oder so hätte ausfallen können, also auf keinen Fall alternativlos oder unumgänglich ist.

Die Alternative

Am 6. Februar 2013 gründet eine 18-köpfige Gruppe in Oberursel im Taunus die Partei „Alternative für Deutschland“. Der Parteiname bezieht sich auf die Äußerung der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Eurorettung „alternativlos“ sei. Das sehen die 18 ganz anders.  Die Alternative für Deutschland hat es seitdem weit gebracht. Im 19. Deutschen Bundestag, der am 24. Oktober 2017 gebildet wurde, ist sie mit beinahe 100 Bundestagsabgeordneten und dem Versprechen, die Bundeskanzlerin zu „jagen“, die größte Oppositionspartei. Erstmals in der Geschichte der Republik sitzt eine rechtspopulistische Partei im Bundestag und verfügt über mehr Präsenz als die FDP (80 Sitze), Die Linke (69 Sitze) und die Grünen (68 Sitze). Die einstige Volkspartei SPD liegt mit 153 Sitzen zwar immer noch weit vor der AfD, ist aber im Vergleich mit früheren Zeiten nur noch ein Schatten ihrer selbst; zum Vergleich: 1998 erreicht die SPD ihren Höchstwert mit 298 Abgeordneten im Bundestag. Die CDU kommt im 19. Bundestag immerhin noch auf 246 Sitze, das ist verhältnismäßig nah an ihrem Höchstwert von 268 Sitzen im Jahr 1990.

Plakative Parolen

Den Weg von der Widerlegung eines Oxymorons bis zur heutigen Pattsituation in Thüringen hat die AfD über Jahre hinweg mit plakativen Parolen hinter sich gebracht. Schon am 12. August 2018 gab AfD-Ikone Alexander Gauland im ZDF ein bemerkenswertes Sommerinterview, wie der zweite deutsche Fernsehsender dieses TV-Format nennt. Bemerkenswert ist es vor allem, weil es an Dürftigkeit kaum zu überbieten ist. Über den Klimawandel sagte Gauland: „Wir glauben nicht, dass das sehr viel mit menschlichem Tun zu tun hat“. Von einer Digitalstrategie könne „im Moment keine Rede sein, und ich wüsste auch keine“. Auf die Nachfrage, wie er die kleinen Leute vor steigenden Mieten durch Internetfirmen wie Airbnb schützen wollen, antwortete er: „Da kann ich Ihnen im Moment keine Antwort drauf geben“.

Establishment lässt sich locken

Schon im Sommerinterview 2018 wird deutlich: Die AfD hat nichts zu sagen, keine ernsthafte Kompetenz, keine Lösungsideen für die tatsächlich anstehenden Probleme, keine Zukunftsvision. Ihren Aufstieg hat sie einzig und allein ihren zunächst Euro-kritischen und später ausländerfeindlichen Parolen zu verdanken. Beides sind Lösungen, die erstens in weiten Teilen der Bevölkerung Gehör finden und zweitens wenngleich in abgemilderte Form auch von Personen aus dem Establishment getragen werden. Zu den Euro-Kritikern gehört mit Bernd Lucke ein Universitätsprofessor und mit Hans-Olaf Henkel ein ehemaliger IBM-Manager und Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Die Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten in Thüringen mit Hilfe der AfD steht exemplarisch dafür, wie das politische Establishment den Lockrufen der AfD unterliegt. Und beim Thema Ausländer ist es sogar der auch heute noch amtierende Innenminister, der die Migration als die „Mutter aller Probleme“ bezeichnet. Noch öffentlichkeitswirksamer und gesellschaftsfähiger kann man das Kernthema der AfD kaum „veredeln“. Wenn dies tatsächlich die größte Herausforderung für Deutschland darstellen würde, dann käme der AfD möglicherweise eine Bedeutung zu. Betrachtet man hingegen beispielsweise die zu erwartenden gravierenden Umwälzungen durch die Digitalisierung als wichtigste Herausforderung für die Zukunft, hat die AfD gar nichts zu sagen. Soziale Fragen, Rente, Klima, Verkehr ... nirgendwo ist eine Kompetenz bei der AfD sichtbar.

Popularität statt Kompetenz

Die AfD-Spitze ist sich dieser Kompetenzschwächen sehr wohl bewusst und fokussiert sich umso stärker und zugespitzter auf ihr Kernthema „Ausländer raus“. Dort weist sie zwar nicht viel mehr Kompetenz auf, kann aber mit einfachen Slogans punkten. Wahlen gewinnt man bekanntlich nicht mit Kompetenz, sondern mit Popularität.

Die AfD und der IS

Übrigens, die Alternative für Deutschland, zugelassene demokratische Partei in der Bundesrepublik Deutschland, und die Terroristen des „Islamischen Staat“ haben, so verschieden sie auch sind, mehr Gemeinsamkeiten, als beiden Seiten lieb sein kann: Sie wollen eine vergangene Zeit wiederherstellen. Die AfD träumt von einem Deutschland der Vergangenheit, mit einer deutschen Leitkultur, prall gefüllt mit deutschen Tugenden. Der IS will ein traditionell-islamisches Reich wieder errichten, in dem Allah das Maß aller Dinge ist und das Wort Mohammeds wieder eine allumfassende Geltung besitzt. Beide Seiten würden sich jeweils mutmaßlich als Erzfeinde bezeichnen und das Terrorregime des IS ist sicherlich nicht mit dem Nazipöbel auf Deutschlands Straßen gleichzusetzen, aber im Kern trauern tatsächlich beide Seiten einer längst vergangenen Zeit nach, in der die Welt – aus ihrer Sicht – noch in Ordnung war. Zukunft geht anders!