Thought Leadership
Ausgangsbeschränkungen, Versammlungsverbote, Schließung beinahe aller Geschäfte durch behördliche Anordnungen - noch nie wurden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so viele Grundrechte so umfassend und so flächendeckend in geradezu abenteuerlicher Geschwindigkeit eingeschränkt wie in der aktuellen Pandemie. Hätte jemand 2019, als das Jubiläum zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes gefeiert wurde, diese Kastration des Grundgesetzes, wie sie ein Jahr später stattfindet, vorhergesagt: Er wäre als Schwarzseher ausgelacht worden. 2020 hingegen lautet die Devise: Tausche Freiheit gegen Sicherheit und Gesundheit. Das ist in der Notsituation vermutlich gerechtfertigt und entgegen mancherlei Meinungen staatsrechtlich erlaubt.
Freiheit gegen Sicherheit und Gesundheit
So kann eine kommunale Gebietskörperschaft in Deutschland eine Ausgangssperre anordnen, sobald die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. Oberste Gebietskörperschaft ist der Bund, die unterste sind Städte und Gemeinden. Konkret verhängen damit die Bundesregierung (für ganz Deutschland), eine Landesregierung (für ihr Bundesland), ein Landrat (für seinen Landkreis) oder ein Bürgermeister (für seine Kommune) eine Ausgangssperre oder ein Ausgangsverbot. Gesetzliche Grundlage ist Artikel 11 des Grundgesetzes, der die Freizügigkeit garantiert. In Absatz 2 ist geregelt, dass diese Freizügigkeit aber eingeschränkt werden darf, sobald unter anderem Seuchengefahr droht.
Wörtlich heißt es im Grundgesetz Artikel 11:
(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.
(2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.
Vieles weitere ist im Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) geregelt. Unter anderem heißt es in Paragraph 16, Absatz 1:
Werden Tatsachen festgestellt, die zum Auftreten einer übertragbaren Krankheit führen können, oder ist anzunehmen, dass solche Tatsachen vorliegen, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der beim Einzelnen oder der Allgemeinheit hierdurch drohenden Gefahren. Die bei diesen Maßnahmen erhobenen personenbezogenen Daten dürfen nur für Zwecke dieses Gesetzes verarbeitet werden.
Rückkehr zur Normalität unabdingbar
Doch so gerechtfertigt diese und viele weitere Maßnahmen in der akuten Gefahrenlage sein mögen, haben nach der Krise alle recht, die die Rückkehr zur Normalität anmahnen, sobald die Gefahr vorüber ist. Hierzu müssen Politik und Verwaltung immer wieder prüfen, ob es angebracht ist, weniger einschneidende Maßnahmen als beispielsweise Ausgangssperren zu ergreifen. Und natürlich gebietet es die Rechtsstaatlichkeit, das letztlich unabhängige Gerichte die Entscheidungen der Politik überprüfen können. Wenn das Haus brennt, ist nicht der Zeitpunkt, die Feuerwehr-Verordnung auf ihre Angemessenheit zu hinterfragen, sondern zu löschen, solange es noch etwas zu retten gibt. Doch wenn das Feuer gelöscht ist, darf und muss sehr wohl darüber diskutiert werden, ob die Feuerwehr-Verordnung gut funktioniert hat und angemessen umgesetzt wurde, und vor allem, welche Lehren daraus für die Zukunft zu ziehen sind.
Immerhin zweifelte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags kürzlich in einem zehnseitigen Gutachten an, ob die Machtkonzentration in der Krise bei der Bundeskanzlerin und dem Bundesgesundheitsminister tatsächlich konform geht mit dem Grundgesetz. Bestimmte Einschränkungen der Rechte der Bundesländer wurden in dem Gutachten als „nicht vereinbar“ mit Artikel 83 des Grundgesetzes (GG) genannt. In Artikel 83 GG heißt es: „Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt.“
Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit
Eine vielschichtige Debatte über Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit ist nach Beendigung der Pandemie-Situation mit Sicherheit erforderlich. Das Verhältnis von Exekutive, also der Regierung, der Legislative, also dem Parlament, und der Judikative, also der Rechtsprechung, wird nicht nur in Deutschland auf dem Prüfstand stehen. Indes stellt diese Diskussion ohnehin das Herzstück jeder funktionierenden Demokratie dar. Die erfolgreiche Beendigung einer Notsituation ist also ein guter Zeitpunkt, dieses essenzielle Thema zu einer politischen und gesellschaftlichen Debatte zu machen.