Thought Leadership
Richter Jens Gnisa, langjähriger Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, hat exklusiv für die Mitglieder des Diplomatic Council in einer Zoom-Gesprächsrunde Stellung bezogen zu aktuellen Fragen der Corona-Politik. Er nimmt dabei eine Bewertung aus juristischer Sicht vor:
Die Grundrechte, festgehalten in den Artikeln 1 bis 19 im Grundgesetz, werden im Zusammenhang mit Corona-Maßnahmen gerne und häufig zitiert – und zwar von beiden Seiten, den Befürwortern und den Gegnern der Maßnahmen. Je weiter vorne sie im Grundgesetz stehen, als desto schutzwürdiger sind sie zu verstehen. Artikel 1 schützt die Menschenwürde, Artikel 2 die Freiheit der Person. Der Staat soll ferngehalten werden vom individuellen Freiraum des Einzelnen. Doch der Staat hat sich nicht nur von diesen Grundrechten fernzuhalten, er muss sie darüber hinausgehend auch schützen. Genau darum geht es in der Pandemie. Er muss also eingreifen, um menschliches Leben zu schützen. Er hat die Pflicht zu handeln, um die Menschen vor Corona zu schützen. Die Option, Corona sozusagen zu ignorieren, sieht das Grundgesetz nicht vor. Bei der Abwägung zwischen dem Schutz der Grundrechte und den Maßnahmen zur Gefahrenabwehr gilt das Angemessenheitsprinzip. Die Maßnahmen müssen der Gefährdungslage angemessen sein.
Bund, Länder, Kommunen vermitteln Chaos-Bild
Diese Grundprinzipien gelten auf drei Ebenen: Bund, Länder und Kommunen. Die Gefahrenabwehr ist zwar in der Regel reine Ländersache; auf kommunaler Ebene sorgen die Ordnungsämter für die Durchsetzung. So gab es von Anfang an Infektionsschutzgesetze auf Länderebene. Doch angesichts der hochgradigen Gefährdungslage bei Corona hat der Bund die Gesetzgebung hierzu an sich gezogen. Das ist legitim gemäß dem Grundsatz Bundesrecht bricht Landesrecht. Hierbei hat der Bund festgelegt, dass die Landesgesetze nur dann gelten, wenn sie härter sind als das Bundesgesetz.
Diese Vorgehensweise ist rechtens, aber die Zuständigkeit der Länder hat in der öffentlichen Wahrnehmung in weiten Teilen den Eindruck von Chaos erweckt. Daraus ist der Wunsch der Öffentlichkeit nach Rechtsgleichheit erwachsen. Dabei wird an den Grundsatz „Gleiches muss gleich behandelt werden“ angeknüpft. Dieser ist zwar richtig, aber ebenso richtig ist der Grundsatz „Ungleiches muss ungleich behandelt werden“. Wenn die Inzidenzwerte an unterschiedlichen Orten und Regionen unterschiedlich sind, so muss dies berücksichtigt werden. Daraus lässt sich ein Plädoyer für kommunales Handeln ableiten. Aus dieser Gemengenlage heraus ist das Chaosbild in der Öffentlichkeit entstanden.
Ministerpräsidentenkonferenz mit Schwächen
Hinzu kommt, dass die für zuständig erklärte Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) zwei entscheidende Schwächen aufweist. Erstens ist sie nirgendwo im Gesetz niedergelegt. Daher können als Ergebnis bestenfalls politische Absichtserklärungen herauskommen, nicht mehr. Zweitens hat sie keinerlei Durchsetzungsmöglichkeiten. Die Ministerpräsidenten mögen in der Konferenz „beschließen“, was sie wollen, es erlangt keine Gesetzeskraft. Hinzu kommt: Die Bundeskanzlerin ist den Ministerpräsidenten in der MPK in keiner Weise übergeordnet. Angesichts all dieser Schwächen wäre es sicherlich besser gewesen, die notwendigen Diskussionen im Deutschen Bundestag statt in der MPK zu führen.
Losgelöst davon war jedoch weder in der Ministerpräsidentenkonferenz noch an anderen Stellen in der Politik der Normzweck überhaupt klar festgelegt. Zum einen ging es darum, die Infektionsgefahr möglichst gering zu halten, zum anderen darum, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Die Politik hat sich zwischen diesen beiden unterschiedlichen Maßstäben schlichtweg nicht entschieden, übrigens bis heute nicht. Auch im Gesetz wird diese Entscheidung nicht vorgenommen.
Der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik
Eine andere Frage in diesem Zusammenhang, die häufig gestellt wird, lautet: Hat die Wissenschaft überhaupt juristische Relevanz? Hierauf ist mit einem klaren „ja“ zu antworten. Die Politik muss evidenzbasiert handeln. Das bedeutet allerdings auch: Je unklarer sich die Forschungslage darstellt, desto breiter ist der Handlungsspielraum der Politik. Die Politik muss in diesem Fall mit einem zeitlichen Vorsprung vor wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen handeln und hat dafür ein Einschätzungsermessen. Wenn indes auf einen Inzidenzwert als Maßstab abgezielt wird, muss dieser „eigentlich“ wissenschaftlich abgesichert sein. Die Werte von 50 oder 100 scheinen weitgehend willkürlich. Die 165 ist ein politischer Kompromisswert ohne wissenschaftliche Begründung. Das Gesetz ist indes ein reines Maßnahmengesetz, das keine Ermessensspielräume für öffentliche Verwaltungen zulässt. Damit wurden die Verwaltungsgerichte in der Pandemie im Grunde ausgeschaltet.
Verfassungswidrigkeit mit Befristung
Beim ersten Entwurf zur Bundesnotbremse war deutlich, dass dies verfassungswidrig sein würde. Man hätte beispielsweise zu späterer Stunde nicht einmal auf der eigenen Terrasse sitzen dürfen. Beim Kontaktverbot wurde nicht differenziert, wen man besuchen darf. Doch im Grundgesetz steht der Schutz der Familie besonders hoch, der überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Es ist ein Unterschied, ob man nahe Verwandte oder einen Geschäftsfreund besucht. Der Gesetzgeber war sich dieser Schwächen sicherlich von Beginn an bewusst – und hat deshalb diese Bremse des öffentlichen Lebens mit einer Bremse versehen, der Befristung des Gesetzes bis Ende Juni. Diese Befristung ist sicherlich auch als ein Sieg all derjenigen zu betrachten, die sich gegen zu rigorose und unangemessene Einschränkungen gewehrt haben. Bedenken wir: Ausgangssperren gab es früher nur in Militärdiktaturen, nicht in demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland.
Wann enden die staatlichen Eingriffe?
Die große Frage lautet natürlich: Wann endet die Eingriffsbefugnis des Staates, wann kriegen wir unser normales Leben zurück? Darauf gibt es mehrere Antworten. Zum einen ist damit natürlich die Frage verknüpft, wie lange noch eine Pandemielage besteht. Ist die Pandemie beendet, muss auch der Ausnahmezustand enden. Doch es gibt noch eine Ebene davor: Die Schutzpflicht des Staates endet nämlich auch, sobald sich die Bürger selbst schützen können. Konkret: Sobald sich die Bürger durch Impfen selbst schützen können, kommt die staatliche Schutzpflicht an ihr Ende. Noch deutlicher: Sobald allen Bürgern eine Impfung angeboten werden kann, ist die Pandemielage beendet. Bei allen Ansteckungen danach handelt es sich um das allgemeine Lebensrisiko. Der Staat muss sich somit auch nicht um diejenigen Bürger kümmern, die sich nicht impfen lassen wollen. Jeder darf selbst bestimmen, welchen Risiken er sich aussetzen will, solange er dadurch andere nicht gefährdet.
Ein anderes Argument ist die mögliche Überlastung des Gesundheitswesens als Gefahrenquelle. Doch dabei ist klar, dass die Gefahr primär von denen ausgeht, die sich nicht impfen lassen. Entspräche das nicht einem Impfzwang, könnte man fragen? Die Antwort lautet „nein“, hier endet schlichtweg das Recht des Staates. Daher gilt auch klipp und klar: Wer geimpft ist, dem darf man keine Grundrechte mehr vorenthalten. Faktisch führt das allerdings dazu, dass die junge Generation abgehängt wird, weil sie noch kein Impfangebot erhalten hat. Doch die Jugend ist immer weniger bereit, diese Einschränkungen zu akzeptieren. Die Lösung ist wohl faktischer Natur: Die Impfbereitschaft ist relativ hoch, die Impfungen schlagen gut an. Bei einer Inzidenz unter 100 greift das Bundesgesetz gar nicht mehr, dann gilt wieder Landesrecht. Gab es zu Beginn der Pandemie einen Wettbewerb der Verschärfungen, so steht gegen Ende der Pandemie ein Wettbewerb der Lockerungen an.
Staatshaftung gibt es nicht
Übrigens: Ein kodifziertes Staatshaftungsrecht gibt es in Deutschland praktisch nicht. Es besteht aus einzelnen Urteilen. Von daher ist die Durchsetzung eventueller Entschädigungsansprüche juristisch zwar möglich, aber schwer. Wer also versucht, Entschädigungsansprüche gegen den Staat aufgrund der Coronamaßnahmen durchzusetzen, wird wohl am Ende leer ausgehen.