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Joschka Fischer
Vision Europa

Am 12. Mai 2000 entwirft ein deutscher Außenminister - Joschka Fischer - die Vision eines föderalen Europas. In seiner berühmten Humboldt-Rede an der Humboldt-Universität Berlin zur „Finalität der Europäischen Union“ bezieht sich Fischer auf Robert Schuman. Am 9. Mai 1050 hatte der damalige französische Außenminister die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) als „erste Etappe einer europäischen Föderation“ bezeichnet. In der Tat entwickelt sich aus der Montanunion zunächst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dann die Europäische Gemeinschaft und schließlich die Europäische Union. Joschka Fischer gibt damals auf die Frage „Quo vadis Europa?“ eine „ganz einfache Antwort“, indem er den „Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation“ fordert, also „ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben“. Die Regierung sollte in Fischer Modell die EU-Kommission ausüben, während der Europäische Rat als eine zweite parlamentarische Kammer gedacht ist, ähnlich dem dualen Prinzip aus Bundestag (erste Kammer) und Bundesrat (zweite Kammer) in Deutschland.

Fischers Vorschlag führt zur Einrichtung eines Konvents, der eine Verfassung für das neue föderale Europa vorlegt. Doch dann wird das Volk befragt: 2005 wird eben diese Verfassung durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden hinweggefegt. Das Ziel einer europäischen Verfassung wird fallen gelassen; im „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“ wird 2007 immerhin eine neue Grundlage für Europa geschaffen, allerdings weitaus weniger ambitioniert und nicht mehr auf eine europäische Verfassung oder gar eine europäische Regierung abzielend. Doch noch am 25. Januar 2012 sagt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Interview: „Im Laufe eines langen Prozesses werden wir mehr Zuständigkeiten an die Europäische Kommission übertragen“, die dann „wie eine Regierung Europas handeln“ werde. Rund ein Jahr später kündigt der britische Premierminister David Cameron die Abhaltung eines Referendums über die britische EU-Mitgliedschaft an, die letztlich in Richtung Brexit führt. Seitdem machen sich europafeindliche Parteien in beinahe allen Ländern der EU immer breiter.

500 Millionen Menschen wählen

Vom 22. bis 26. Mai sind rund 500 Millionen Menschen in Europa dazu aufgerufen, das Europäische Parlament zu wählen. Es ist gut und richtig, zur Wahl zu gehen. Aber man muss sich darüber im klaren sein, dass die demokratische Legitimation und die Machtbefugnisse des Europäischen Parlaments auf wackeligen Füßen stehen. Es ist zwar das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union und übrigens auch die einzige direkt gewählte supranationale Institution weltweit. Aber das Bundesverfassungsgericht spricht dem Europäischen Parlament bereits 2009 nur eine eingeschränkte demokratische Legitimation zu. Wörtlich kommt das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 30. Juni 2009 zu dem Schluss: „Durch den Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments kann die Lücke zwischen dem Umfang der Entscheidungsmacht der Unionsorgane und der demokratischen Wirkmacht der Bürger in den Mitgliedstaaten verringert, aber nicht geschlossen werden. Das Europäische Parlament ist weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen. Es ist gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht gleichheitsgerecht gewählt und innerhalb des supranationalen Interessenausgleichs zwischen den Staaten nicht zu maßgeblichen politischen Leitentscheidungen berufen. Es kann deshalb auch nicht eine parlamentarische Regierung tragen und sich im Regierungs-Oppositions-Schema parteipolitisch so organisieren, dass eine Richtungsentscheidung europäischer Wähler politisch bestimmend zur Wirkung gelangen könnte. Angesichts dieses strukturellen, im Staatenverbund nicht auflösbaren Demokratiedefizits dürfen weitere Integrationsschritte über den bisherigen Stand hinaus weder die politische Gestaltungsfähigkeit der Staaten noch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aushöhlen.“

Das Europäische Parlament gehört im übrigen zu einem kleinen unrühmlichen Kreis von Parlamenten weltweit, die nicht einmal das sogenannte Initiativrecht haben, selbst ein Gesetz auf den Weg zu bringen. Parlamentspräsident Antonio Tajani nennt das Europäische Parlament zwar das „Herzstück der Demokratie“, gibt aber zu: „Wir müssen dem EU-Parlament ein Initiativrecht einräumen. In der Tat sind wir das einzige Parlament weltweit ohne Initiativrecht.“ Hier irrt der Präsident: In China, Kuba und Nordkorea dürfen die Parlamente auch keine Gesetze vorschlagen. Zwei Alleinstellungsmerkmale hat das EU-Parlament allerdings: Es ist das größte demokratisch gewählte Organ der Welt und zugleich das einzige Parlament weltweit, das sich auf drei Orte verteilt: Brüssel, Straßburg und Luxemburg. Immerhin.